Im Streit um die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 verzichtet die Regierung von US-Präsident Joe Biden auf Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft – auch aus Rücksicht auf die Beziehungen zu Deutschland. In einem Bericht von US-Außenminister Antony Blinken an den Kongress heißt es, der Verzicht auf Strafmaßnahmen gegen die Nord Stream 2 AG, deren deutschen Geschäftsführer Matthias Warnig sowie vier weitere Mitarbeiter sei im „nationalen Interesse“ der USA.
Als Begründung wurde angeführt, dass solche Sanktionen „die US-Beziehungen mit Deutschland, der EU und anderen europäischen Verbündeten und Partnern“ negativ beeinflusst hätten.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Aussetzung von US-Sanktionen begrüßt. „Natürlich ist Präsident (Joe) Biden jetzt auch auf uns ein Stück im Nord-Stream2-Konflikt zugegangen“, sagte Merkel am Donnerstag im WDR-Europaforum. Nun werde man mit Washington sprechen, wie man Gemeinsamkeiten im Verhältnis zu Russland und der Ukraine finden werde, fügte sie hinzu. Der Frage, was Deutschland der Regierung in Washington im Gegenzug anbieten könne, wich Merkel aus. Sie verwies aber etwa darauf, dass sie ebenso wie Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet für einen weiter steigenden Rüstungsetat Deutschlands und die Übernahme von mehr Verantwortung in der NATO einträten. Im Rahmen der G7-Staatengruppe werde man auch über eine gemeinsame Haltung gegenüber China sprechen, mit dem Deutschland „extrem wirtschaftlich verbunden“ sei.
Merkel betonte, dass Deutschland zu den USA ein sehr enges Verhältnis habe und Biden es einfacher mache, an Kooperationen anzuknüpfen. „Wir sind auch in bilateralen Gesprächen, gerade was die Intensivierung unserer Wirtschaftsbeziehungen anbelangt“, sagte sie. Man könne mit den USA etwa über Normungsfragen und Standards beim 5G- oder 6G-Mobilfunknetz sprechen. „Hier gibt es viele, viele Gemeinsamkeiten, die wir erreichen könnten.“
„Ein Geschenk“ für Kremlchef Wladimir Putin?
In dem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Bericht von US-Außenminister Blinken heißt es, auf Grundlage der US-Sanktionsgesetze gegen die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 und die russisch-türkische Gas-Leitung Turk Stream würden Strafmaßnahmen gegen vier russische Schiffe erlassen, die Rohre verlegten. Auch gegen vier russische Institutionen würden Sanktionen verhängt. Dennoch erscheint es mit der jüngsten Positionierung Washingtons zunehmend unwahrscheinlich, dass die Fertigstellung von Nord Stream 2 auf den letzten Metern noch verhindert wird. Die Republikaner werfen dem Demokraten Biden vor, Kremlchef Wladimir Putin „ein Geschenk“ gemacht zu haben.
Was die Amerikaner nun von den Deutschen erwarten
Dem US-Ministeriumsbericht zufolge haben die Nord Stream 2 AG und Geschäftsführer Warnig zwar ebenfalls gegen die Sanktionsgesetze verstoßen. Blinken habe aber entschieden, auf Strafen zu verzichten. Damit werde Raum geschaffen für Gespräche auf diplomatischer Ebene mit Deutschland, um die Risiken für die Ukraine und die europäische Energiesicherheit durch die Fertigstellung der Pipeline anzusprechen. Die Ukraine fürchtet um ihre Position als wichtigstes Transitland für russisches Gas nach Europa und um Milliardeneinnahmen für die Durchleitung, wenn Moskau die Ostsee-Pipeline für den Transport benutzt.
Im Klartext dürfte das bedeuten, dass die Amerikaner nun ein Zeichen des Entgegenkommens von deutscher Seite erwarten – vielleicht schon bis zum nächsten Sanktionsbericht Blinkens an den Kongress in drei Monaten. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat bereits eine Idee für einen Kompromiss ins Spiel gebracht: die Pipeline zu Ende bauen, den Betrieb aber vom Verhalten Russlands abhängig machen. Beim kleineren Koalitionspartner SPD kommen solche Gedankenspiele allerdings nicht so gut an. Die Sozialdemokraten halten dem Pipeline-Projekt – im Gegensatz zu Union, Grünen und FDP – fest die Stange, und das noch ohne Einschränkungen.
Erleichterung in Berlin
In der deutschen Regierung sorgt der weitgehende Sanktionsverzicht der USA erst einmal für Aufatmen. Außenminister Heiko Maas (SPD) spricht von einem „konstruktiven Schritt“. Er sieht die Entscheidung als Zeichen der Wertschätzung für den wichtigen Verbündeten Deutschland. In Berlin war man zuletzt zunehmend genervt, dass der viel beschworene Neuanfang in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nach der desaströsen Ära von US-Präsident Donald Trump durch den anhaltenden Pipeline-Streit überschattet wurde. Man müsse nun sehen, „dass dieses Projekt unsere wirklich hervorragende Zusammenarbeit nicht weiter in irgendeiner Weise belastet“, sagte Maas bereits am Mittwoch.
Kommt nun der Gipfel mit Biden und Putin?
Für eine gewisse Entspannung dürfte der Sanktionsverzicht auch in den belasteten Beziehungen zwischen den USA und Russland sorgen. Bei der Nord Stream 2 AG ist der russische Konzern Gazprom formal einziger Anteilseigner. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte den Sanktionsverzicht ein „positives Signal“. Damit seien zusätzliche Schwierigkeiten für das Vorhaben abgewendet. Die USA hätten eingesehen, dass der Verzicht auf Strafmaßnahmen in ihrem Interesse liege. Die bisherigen Sanktionen seien illegal und verstießen gegen internationales Recht, sagte er. Allerdings ließ Peskow weiter offen, ob der Schritt ausreicht für einen von Biden vorgeschlagenen Gipfel mit Putin in Europa im Juni. Putin müsse das noch entscheiden.
Die „Biden-Putin-Pipeline“
Die Regierung des Demokraten Biden mag mit ihrem Vorgehen in Berlin und Moskau auf Beifall stoßen. Den Republikanern im US-Kongress liefert sie aber eine Steilvorlage – auch deshalb, weil Blinken versprochen hatte, die Fertigstellung der Pipeline nach Kräften zu verhindern. Da hilft es auch nicht, dass der Chefdiplomat jetzt erklärt, man sei weiterhin strikt gegen Nord Stream 2. Der republikanische Senator Ted Cruz – einer der Urheber der US-Sanktionsgesetze gegen Nord Stream 2 – spricht schon empört von der „Biden-Putin-Pipeline“. Der Top-Republikaner im Auswärtigen Ausschuss des Senats, Jim Risch, warf der Biden-Regierung vor, sie stelle deutsche und russische Interessen über jene von Verbündeten in Zentral-, Ost- und Nordeuropa, die in der Gas-Leitung ein politisches Druckmittel Putins sehen.
Was unternahm Biden gegen den „schlechten Deal“?
Sowohl Republikaner als auch Demokraten stehen mit überwältigender Mehrheit hinter den Sanktionsgesetzen gegen Nord Stream 2. Auch Biden hat das Projekt wiederholt „einen schlechten Deal für Europa“ genannt. Tatsächlich hat er seit seinem Amtsantritt am 20. Jänner aber kaum konkrete Maßnahmen ergriffen, um die Pipeline noch zu stoppen. Im vorherigen Sanktionsbericht des US-Außenministeriums vor drei Monaten – dem ersten unter Blinken – wurden gar keine neuen Sanktionen verhängt. Was bei der Kritik der Republikaner allerdings untergeht: Auch die Trump-Regierung hat nur gegen ein einziges russisches Schiff und dessen Betreiberfirma Strafmaßnahmen erlassen.
Wie geht es nun weiter mit dem Pipeline-Bau?
Die Entscheidung, gegen die Nord Stream 2 AG keine Sanktionen zu verhängen, erhöhe nun die Chancen einer Fertigstellung und Inbetriebnahme der Pipeline in einigen Monaten – bis Jahresende, sagte der Analyst Dmitri Marintschenko der russischen Staatsagentur Tass. Es sei allerdings schwer, genaue Daten zu nennen, weil ein Teil der Sanktionen in Kraft sei. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft teilte in Berlin mit, dass nach einer von ihm selbst in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage 75 Prozent der Befragten für eine Fertigstellung der Pipeline seien.
„Nicht nur die deutsche Wirtschaft, auch die deutsche Bevölkerung will, dass die Pipeline erfolgreich fertiggestellt wird und keine milliardenteure Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee entsteht“, betont der Ausschuss-Vorsitzende Oliver Hermes. Nord Stream 2 sei eine „Schlüssel-Infrastruktur für die deutsche und europäische Energieversorgung“. Die Leitung gleiche die sinkende Erdgasproduktion in den Niederlanden und Norwegen aus und helfe beim Kohle- und Atom-Ausstieg.
Die Nord Stream 2 AG gehört zur Gänze dem mehrheitlich staatlichen russischen Gaskonzern Gazprom. Ursprünglich waren an der Projektgesellschaft auch E.ON (heute Uniper), Wintershall, Royal Dutch Shell, Engie und die österreichische OMV beteiligt. Im Sommer 2016 zogen sich die fünf westlichen Energieunternehmen jedoch auf politischen Druck vor allem Polens aus dem Projekt zurück. Sie beteiligen sich aber an der Finanzierung der Baukosten mit jeweils 10 Prozent. Die OMV wollte den Sanktionsverzicht der USA nicht kommentieren.
Protest aus der Ukraine
Kritik an der Entscheidung der USA kommt aus der Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete den Verzicht auf Sanktionen als „geopolitischen Sieg für die Russische Föderation“
APA/ag