„Strompreise steigen 2023 erneut um 100 Prozent“

1. Juni 2022

Theodor Tanner. Ex-Chef der Bundeswettbewerbsbehörde sieht die EU in der Pflicht

In den vergangenen Wochen sind die Preise für Energie massiv gestiegen. Beim Verbund etwa betrug der Zuwachs im Durchschnitt 77 Prozent. Viele Verbraucher ächzen unter diesem Anstieg. Doch es könnte noch schlimmer kommen, glaubt man Theodor Thanner. Er war bis vor kurzem Chef der heimischen Bundeswettbewerbsbehörde BWB. Bis Mai hätten die Preise an der Stromhandelsbörse in Leipzig bereits um rund 30 Prozent zugelegt. „Rechnet man
das aufs ganze Jahr hoch, kommt man auf 100 Prozent.“ Das würde bedeuten, dass die Preise im kommenden Jahr in diesem Ausmaß erneut steigen würden. Thanner will das so nicht akzeptieren.

„Es gibt dringenden Handlungsbedarf“, sagte er im Klub der Wirtschaftsjournalisten. Der Strommarkt sei kein freier Markt. Daher fordert er die EU-Kommission auf, tätig zu werden. „Sie sollte sich intensiv mit der Merit-Order beschäftigen.“ Diese besagt, dass das teuerste Kraftwerk, das zur Deckung der Stromnachfrage benötigt wird, den Preis bestimmt. Das ist meist ein Gaskraftwerk – und wegen der aktuell hohen Gaspreise ist auch der Strom teuer.
Konkret sollte die EU sich in dem Zusammenhang damit beschäftigen, ob das Kartellrecht hier greifen könnte. „Das System ist nicht wettbewerbsfördernd.“ Zudem hinterfragt er generell die Merit-Order. „Man könnte auch den Strom- vom Gaspreis lösen.“ Dies sei natürlich nicht von heute auf morgen möglich, „sonst würden die Märkte zusammenbrechen.“

Des Weiteren sei die Einführung einer Obergrenze für den Gaspreis möglich, wie dies etwa schon Spanien oder Portugal vollzogen haben.

Konzerne gefragt

Thanner sieht aber auch die heimischen Konzerne in der Pflicht. Zum einen sei mehr Transparenz nötig, etwa was die Energierechnungen betrifft. Zum anderen seien die Vorstände und Aufsichtsräte gefordert. „Laut Paragraf 70 des Aktiengesetzes müssen diese neben den Interessen der Aktionäre auch die der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit berücksichtigen.“ Thanner vermisst hier bis dato eine Abwägung dieser Interessen. „Verbraucher sind von Spekulanten abhängig“, empört sich der Jurist. „Ich sehe nicht ein, dass Preise von Gütern des täglichen Lebens von Spekulanten abhängig sind.“ Er verweist in dem Zusammenhang darauf, dass die Deutsche Börse 75 Prozent der Anteile an der Leipziger Strombörse hält.

Laut dem früheren E-Control-Chef Walter Boltz liegt Thanner in seiner Einschätzung über die künftigen Preise „nicht ganz falsch“, wie er im KURIER-Gespräch sagt. „Das ist durchaus realistisch.“ Denn Fakt sei, dass die Großhandelspreise erst zu einem kleinen Teil bei den Endkunden angekommen seien. Die Versorger hätten sich aus politischen Gründen nicht getraut, die Erhöhung gleich in vollem Umfang weiterzugeben. Eine Abkehr von der Merit-Order würde aber die Lage kaum ändern; eher ein Konjunktureinbruch oder ein Waffenstillstand in der Ukraine.

„Ja, es ist noch einmal mit höheren Gas- und Strompreisen zu rechnen“, ergänzt Arbeiterkammer-Energieexperte Josef Thoman. Denn laut den Klauseln in den Kundenverträgen würden die Preise regelmäßig an die Börsepreise angepasst. „Die Durchrechnungszeiträume sind aber unterschiedlich.“ So habe die Energie Allianz (EVN, Wien Energie sowie die Energie Burgenland) schon deutlich erhöht, die Tiroler Tiwag hingegen noch nicht.

Auch Verbund-Chef Michael Strugl hat vor Kurzem im KURIER-Interview gemeint, dass Strom noch jahrelang teuer bleiben werden. „Bis 2025 sehen wir relativ hohe Preise.“

Und laut einer Studie des deutschen Beraters Prognos aus 2021 – also vor dem Krieg – steigen die Preise im Stromgroßhandel bis 2030 um rund 50 Prozent.

Kurier

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