Warum es die Merit Order noch gibt

31. August 2022

Energieversorgung. Durch den starken Preisanstieg steht das EU-Modell des Strommarkts vermehrt in der Kritik. Die Kopplung an den Gaspreis ist vielen ein Dorn im Auge. Einfache Konzepte gibt es dafür aber nicht

Dass die Kosten für Strom mit den Gaspreisen steigen, liegt am Modell der Merit Order. Dieses steht vermehrt in der Kritik. Könnte man es nicht einfach abschaffen?

Möglich, aber nicht einfach und jedenfalls folgenschwer, meinen Experten. Denn um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen, muss die gehandelte Strommenge tagesaktuell adaptiert werden. Dazu finden an den Strombörsen täglich Auktionen statt. Kraftwerksbetreiber melden, wie viel Strom sie wann zu welchem Preis liefern können. Im Merit Order Verfahren werden diese Gebote nach aufsteigenden Kosten sortiert. Einen Zuschlag erhält zunächst das billigste Gebot und dann alle weiteren, deren Produktion noch zur Deckung des Bedarfs nötig ist. Die Einsatzreihenfolge (order) richtet sich also nach der Wirtschaftlichkeit (merit, Engl. Wert, Anm.). Die Kosten des teuersten, noch notwendigen Kraftwerks bestimmen den Marktpreis, den alle Kraftwerksbetreiber erhalten (siehe Grafik).

Das System wurde vor mehr als 20 Jahren im Zuge der EU-weiten Liberalisierung der Energiemärkte eingeführt. Es soll Transparenz bei den Erzeugungskosten schaffen, erklärt Johannes Mayer, Leiter der Abteilung Volkswirtschaft bei der Regulierungsbehörde E-Control im Gespräch mit dem KURIER. Auch ohne Auktionsverfahren würden die Kraftwerksbetreiber versuchen, ihren Strom teuer zu verkaufen und sich dabei an ihrer Einschätzung der des Bedarfs orientieren.

Die Auktion soll also einen Preisdruck erzeugen. Das Problem ist, dass das teuerste, zur Bedarfsdeckung nötige Kraftwerk im Regelfall ein Gaskraftwerk ist. Und der Gaspreis ist seit dem Ukraine-Krieg stark angestiegen. Am Fretiag erreichte er mit 340 Euro je Megawattstunde (MWh) ein neues Rekordhoch. Und das ist etwa das 15-Fache eines langjährigen Durchschnittspreises im Sommer. Obwohl nur ein relativ kleiner Teil des verbrauchten Stroms mit Gas erzeugt wird, schlägt der hohe Preis im Merit-Order-Verfahren auf den gesamten Strompreis durch.
Da die Effizienz der Gasverstromung bei 2:1 liegt, ist der Preis für eine MWh Strom also meistens etwa doppelt so hoch wie für eine MWh Gas. Neben dem Brennstoff kommen noch Kosten etwa für den Kraftwerksbetrieb und CO₂-Zertifikate dazu. Deswegen liegt der Großhandelspreis für Strom am Spotmarkt derzeit bei etwa 700 Euro je MWh.

Alternativen

Wollte man die Merit Order aussetzen oder abschaffen, bräuchte man ein neues Marktdesign. In einem Pool-Modell bekämen beispielsweise alle Kraftwerksbetreiber den Preis, zu dem sie angeboten haben, ausbezahlt und der Marktpreis richtet sich nach dem Mittelwert. Das könnte aber dazu führen, dass die Kraftwerksbetreiber zu höheren Preisen anbieten. Auch fallen Anreize weg, möglichst billig zu produzieren, was sich negativ auf den Ökostromausbau auswirken könnte. Eine Änderung des Marktdesigns auf EU-Ebene würde zudem lange dauern, schätzt Mayer: „Unter drei Jahren sehe ich das nicht“, und zwar „selbst wenn man sich einig wäre“. Das liege an der komplexen IT-Architektur des Systems.

Schneller umzusetzen wären Eingriffe in das bestehende System, wie etwa in Spanien. Dort wird das Gas, das zur Stromerzeugung eingesetzt wird, staatlich subventioniert. Das kappt die Spitze der Merit Order und drückt somit den Strompreis. Spanien und Portugal haben allerdings eine Sonderstellung, weil von der iberischen Halbinsel kaum Strom exportiert wird. Österreich hat hingegen viel Austausch mit den Nachbarländern. Der mit öffentlichen Geldern subventionierte Strom würde also teilweise dorthin „abfließen“.

Die Bundesregierung will die Konsumenten entlasten, indem ein Grundbedarf an Strom subventioniert wird („Strompreisbremse“). „Das kostet Milliarden“, kritisiert Stephan Schulmeister. Einzelstaatliche Eingriffe in den Markt, wie sie der Ökonom fordert, könnten aber zu einem EU-Vertragsverletzungsverfahren führen.

Kurier