Letzte Chance in der Klimakrise

22. März 2023
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Weltklimarat: Emissionsprobleme weiter ungelöst, bereits vorhandene negative Auswirkungen könnten sich intensivieren.

Es ist allerhöchste Zeit, es muss sofort gehandelt werden. Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben in der vergangenen Woche mit rund 650 Regierungsvertretern im Schweizer Traditionsurlaubsort Interlaken darum gerungen, die Dinge klarzulegen: Die negativen Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels werden mit jedem weiteren Schritt der Erderwärmung weiter eskalieren. Das ist die drastische Prognose des Weltklimarats (IPCC). Die Beiträge der Arbeitsgruppen I bis III beschäftigten sich mit den physikalischen Grundlagen des sich verändernden Klimas, der Anpassung an den Klimawandel und mit Möglichkeiten, ihn zu mindern, indem Emissionen begrenzt oder verhindert werden, oder ihre Konzentration in der Atmosphäre verringert wird.

Einige künftige Veränderungen seien unvermeidbar oder gar unumkehrbar, doch mit einer schnellen und nachhaltigen globalen Treibhausgasreduzierung könnten sie begrenzt werden, heißt in dem am Montag veröffentlichten „Synthesebericht“. Diese Zusammenfassung der wissenschaftlichen Erkenntnisse dient als Grundlage für Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft unter anderem beim nächsten Klimagipfel in Dubai von 30. November bis 12. Dezember.

„Wir sehen den Klimawandel viel, viel stärker als vor achteinhalb Jahren (2015 war das Jahr des Pariser Klimaschutzabkommens, Anm.). Wir spüren die Auswirkungen und wissen, dass sie mit jedem bisschen Erwärmung massiv ansteigen werden. Gleichzeitig haben wir es noch in der Hand, dagegen vorzugehen und das Allerschlimmste abzuwenden“, sagte Matthias Garschagen, Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie der Universität München und Mitglied des Kernautorenteams des Syntheseberichts: „Aber dieses Fenster schließt sich und dabei sind die nächsten Jahre ganz entscheidend.“

Der Synthesebericht legt vor, wie einerseits Klimaschutz betrieben werden kann und wie andererseits die Menschheit möglichst gut mit dem Unvermeidlichen auskommen kann. Er „unterstreicht die Dringlichkeit ehrgeizigerer Maßnahmen“, sagte IPCC-Vorsitzender Hoesung Lee bei der aus Genf übertragenen Präsentation.
„Alle Handlungsoptionen“

Laut den IPCC Berichten zwischen Sommer 2021 und Frühjahr 2022 dürfte selbst im günstigsten Szenario mit starken Maßnahmen zum Klimaschutz das Ziel, die Erwärmung möglichst unter 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, ab den 2030er-Jahren für eine Weile überschritten werden. Maximal 1,5 Grad sind das Ziel das Pariser Abkommens. Um es zu erreichen, müsse das Energiesystem laut den Wissenschaftern auf 100 Prozent erneuerbare Energien umgestellt werden. Weltweit müsse in den Klimaschutz drei bis sechs Mal so viel investiert werden wie derzeit.

„Wir haben alle Handlungsoptionen, um unsere CO₂ -Emissionen zu halbieren und auf den Pariser Pfad zu kommen: Erneuerbare Energien ausbauen, raus aus fossilen Energieträgern, Verbesserung der Biodiversität, klimafreundliches Mobilitätsverhalten, klimafreundliche Ernährung: Hierzu braucht es jedoch Regulatorien“, erklärt der Wiener Klimaforscher Daniel Huppmann vom Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg, der an IPCC-Berichten mitarbeitet.

Fortgesetzte Emissionen würden laut dem Klimarat dazu führen, dass alle wichtigen Komponenten des Klimasystems weiter beeinträchtigt würden. Mit jedem weiteren Schritt der globalen Erwärmung würden die Veränderungen bei den Extremen weiter zunehmen, heißt es. Es wird projiziert, dass eine fortgesetzte globale Erwärmung auf den globalen Wasserkreislauf wirken werde, einschließlich seiner Variabilität. Das bedeutet, dass sich Monsun-Niederschläge sowie sehr feuchte und sehr trockene Wetter- und Klimaereignisse und Jahreszeiten weiter intensivieren.

„Klimagerechtigkeit ist von entscheidender Bedeutung, weil jene, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, unverhältnismäßig stark davon betroffen sind“, wurde Aditi Mukherji, eine von 93 Autorinnen und Autoren des Syntheseberichts, zitiert. Damit ist nicht nur eine gerechte Verteilung zwischen Nord und Süd gemeint, sondern auch die zwischen ärmeren und reicheren Schichten innerhalb eines Landes: Es sollten alle Menschen so gut wie möglich mit den Folgen der Erderwärmung auskommen. Zu den Anpassungsmaßnahmen, „die die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Erderhitzung und den damit zusammenhängenden Naturkatastrophen erhöhen und ein möglichst gutes Leben ermöglichen sollen“, zählen unter anderem Stadtbegrünung, Hochwasserschutz oder der Ausbau der Kanalisation, damit bei Starkregen die Kanäle nicht überlaufen, sagt Huppmann.

„Zeitfenster schließt sich“

Der Klimawandel habe bereits die Ernährungssicherheit verringert und die Wasserversorgung beeinträchtigt. Wirtschaftliche Schäden werden in Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Energie und Tourismus festgestellt. In städtischen Gebieten wurden nachteilige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und wichtige Infrastrukturen festgestellt.

Der Weltklimarat nennt eine Art Notfallmaßnahme zur Senkung der Temperaturen, selbst wenn vorerst das 1,5-Grad-Ziel überschritten wird. Nötig wäre ein negativer globaler Netto-CO₂ -Ausstoß, der nicht nur erreicht, sondern auch aufrechterhalten werden müsste. Der Begriff „Carbon Capture“ bezeichnet Methoden, um aus der Luft mehr CO₂ zu entnehmen als auszustoßen. „Man könnte CO₂ aus der Luft absaugen und in den Erdboden pumpen. Das ist allerdings aus meiner Sicht nur eine allerletzte Maßnahme, zumal sie einen großen technischen, finanziellen und vor allem regulatorischen Aufwand darstellen würde“, erklärt Huppmann.

Die kumulierten weltweiten Netto-CO₂ -Emissionen von 1850 bis 2019 betrugen 2.400 Gigatonnen. Mehr als die Hälfte davon (58 Prozent) kam in den 140 Jahren bis 1989 zustande. / (est)
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Wiener Zeitung