Winterstromlücke: Wer soll das bezahlen?

9. September 2024

Ökostrom. Es gibt keine bezahlbare Möglichkeit, die Winterstromlücke mit Sonne und Wind zu füllen, sagen Schweizer Ökonomen. Heißt die Lösung Kernkraft?

Um die Energiewende hinzubekommen, benötige man „mehr Atomkraft, mehr erneuerbare Quellen und mehr Effizienz“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor ein paar Tagen bei einer Konferenz in Prag. Das wird man hierzulande nicht gern hören, denn Österreich hat ja schon 1978 ein bereits fertiggestelltes Kernkraftwerk per Volksabstimmung zur Investitionsruine gemacht und 1999 ein Kernkraftverbot in die Verfassung geschrieben. Dieses Zuckerl ist gelutscht, da geht nichts mehr. Und in Deutschland, wo die Ampel ja recht hart an der Deindustrialisierung des Landes arbeitet, haben sie im Vorjahr das letzte funktionstüchtige Kernkraftwerk abgeschaltet.

Im Rest der Welt sieht man das vielfach entspannter: Frankreich, Ungarn und Tschechien planen den Ausbau ihrer Kernkraftkapazität, das Steinkohleland Polen will bis 2033 sein erstes Kernkraftwerk in Betrieb nehmen. Außerhalb Europas wälzen unter anderem die USA, China und Japan Ausbaupläne. Zu den derzeit weltweit 415 laufenden Atomreaktoren werden in den nächsten Jahrzehnten wohl einige dazukommen.

Dabei sind viele der hierzulande gängigen Argumente gegen die Atomkraft durchaus stichhaltig: Lange Bauzeiten, teuer, ungelöste Endlagerfrage, Risiko von schwer beherrschbaren Großunfällen. Wissen das die Energieexperten in den rund 30 Ländern mit Kernkraft-Ausbauplänen nicht?

Doch, wissen sie. Sie wissen aber auch, dass CO₂-freie Stromproduktion nur mit Wind und Sonne nicht möglich ist. Zumindest nicht zu tragbaren Kosten für ein System, das sommers wie winters Energie in der jeweils benötigten Menge liefern muss. Und zwar konstant. Das ist einer der Grundpfeiler jeder Industriegesellschaft. „Es gibt derzeit keine bezahlbare Möglichkeit, den Sonnenstrom-Überschuss des Sommers in den Winter zu bekommen“, schreibt der renommierte Schweizer Thinktank Avenir Suisse dazu.

Damit ist das Grundproblem schon geklärt: Vor allem Fotovoltaik liefert im Sommer hohe Überschüsse, die niemand benötigt, und im Winter viel zu wenig. Avenir Suisse hat sich das Problem für die Schweiz näher angeschaut. Das Ergebnis der Arbeit ist auch für Österreich, das vom Erneuerbaren-Anteil, von der Stromproduktion und vom Verbrauch her relativ nahe an der Eidgenossenschaft liegt, recht interessant.

Die Schweizer beginnen mit einer Erkenntnis, die dem Wahl-Villacher Paracelsus schon vor 500 Jahren gekommen ist, wenn auch in einem anderen Fachgebiet: „Die Dosis macht das Gift“. Soll heißen, Wind und Fotovoltaik sind eine große Sache. Aber wenn man übertreibt, wird es tödlich. In dem Fall unbezahlbar.

Das Grundübel ist die stark schwankende Produktion bei gleichzeitigem Bedarf nach möglichst gleichmäßiger, bedarfsorientierter Energielieferung. In der Theorie lässt sich das locker lösen: Speicherung der Produktionsüberschüsse in Speicherkraftwerken und Batterien, Nutzung des Überschussstroms für die Erzeugung von Wasserstoff, der dann, wenn er gebraucht wird, in dafür geeigneten Gaskraftwerken wieder „verstromt“ wird und so weiter. Case solved. Keine weiteren Fragen.

Kurzfristig funktioniert das auch einigermaßen, also bis auf den Wasserstoff: Batterien eignen sich beispielsweise bei Hausanlagen hervorragend dafür, sonnenlose Nächte zu überbrücken, Speicherkraftwerke schaffen die Glättung von Produktionsschwankungen in größerem Stil. Hier ist das Problem eher ein sehr unintelligentes Fördersystem, das die Systemkosten in Ländern mit hoher Ausbaurate, etwa Deutschland, in lichte Höhen treibt. Deutschland etwa gibt heuer schon 23 Mrd. Euro für die Subventionierung von Ökostrom aus, der nicht benötigt wird und deshalb zu teilweise negativen Preisen ins Ausland verscherbelt werden muss. Und für „Geisterstrom“. Der entsteht, wenn beispielsweise Windkraftanlagen mangels Nachfrage zur Netzstabilisierung abgeregelt werden, der deshalb nicht erzeugte Strom aber bezahlt werden muss, weil Ökostromerzeuger Abnahmegarantien haben. Ein ziemlich hirnrissiges Subventionssystem, das Ökostrom insgesamt recht teuer macht. Aber mit Marktinstrumenten leicht behebbar wäre. Wenn anstelle der Abnahmegarantien marktgerechte Bezahlung träte, die Einspeiser bei negativen Strompreisen, die es in diesem Sommer mittags ziemlich oft gab, also nicht bezahlt würden, sondern selbst zahlen müssten, würde sich die Einspeiskurve wohl schnell glätten.

Das Problem ist, wie gesagt, die Winterstromlücke bei den Erneuerbaren. Die beträgt, so Avenir Suisse, in der Schweiz rund 20 Terawattstunden. Bei uns dürfte es wohl ähnlich aussehen, Österreich muss im Winter ja teilweise bis zur Hälfte seines Stromverbrauchs aus Importen decken. Der PV-Ausbau hilft hier wenig, denn die Sonnenausbeute ist von Dezember bis Februar eher jämmerlich.

Um 20 Terawattstunden Sonnenstrom ins Winterhalbjahr zu retten, bräuchte die Schweiz laut Avenir Suisse 800 zusätzliche Speicherseen von der Größe des jüngsten Pumpspeicherwerks Nant de Drance. Investitionsvolumen für den sehr, sehr unwahrscheinlichen Fall, dass die Bevölkerung so etwas akzeptiert: 1700 Mrd. Franken. Na gut, dann eben Batterien: Da haben die Schweizer auf Basis der gängigen Tesla-Megapacks (je 3,9 MWh Kapazität) gerechnet. Das würde eine halbe Million Franken Investition pro Schweizer Bürger erfordern, die Batterien würden die gesamte Fläche des Kantons Thurgau einnehmen.

Bleibt Wasserstoff zur Rückverstromung: Für 20 Terawattstunden Sonnenstrom würde die Schweiz eine Elektrolysekapazität benötigen, die dem Siebenfachen der aktuellen globalen Kapazität entspricht. Die Anlagen wären Dauersubventionsempfänger, weil sie zur Rentabilität 4000 bis 5000 Volllaststunden im Jahr benötigten, die Sonne aber nur knapp 2000 Stunden halbwegs ausreichend scheint. Und die Investitionskosten würden sich für die Schweiz auf Basis der für 2030 erwarteten Kosten (auf heutiger Preisbasis wäre es wesentlich teurer) auf insgesamt bis zu 85 Mrd. Franken belaufen.

Dafür bekäme man auch zwei bis drei konstant Strom liefernde Kernkraftwerke. Womit wir wieder beim Beginn sind: Franzosen, Tschechen, Amerikaner und Chinesen sind vielleicht doch nicht so blöd. Sie können rechnen und tun das offenbar auch. Sie schauen sich die Sache weniger ideologiegetrieben an und kommen zur Erkenntnis, dass Sonne, Wind und, wenn vorhanden, Wasser eine sehr wichtige, ja unverzichtbare Rolle bei der Umgestaltung des Energiesystems spielen. Aber eben Grenzen haben. Zum Teil technische, zum Teil kommerzielle. Und dass man für das Gebiet jenseits dieser Grenzen CO₂-freie Ergänzungen braucht. Weil man das Stromsystem sonst nicht nur destabilisiert, sondern auch unbezahlbar macht und sich damit selbst aus der internationalen Wirtschaftskonkurrenz katapultiert.

Zu der Erkenntnis gehört eine seriöse Abwägung der Risken und Chancen der hierzulande verteufelten Kernkraft. Viel mehr CO₂-freie Alternativen sind zurzeit leider nicht zu finden.

Man kann es natürlich auch wie Österreich machen: Die große Winterstromlücke mit Importen füllen. Zum Bespiel aus tschechischen Kohle- und Kernkraftwerken. Und sich gleichzeitig mit Plänen für 100 Prozent Ökostrom selbst belügen.
Mail: josef.urschitz@diepresse.com

Die Presse