EU setzt bei Netzausbau auf Prinzip Hoffnung

11. Dezember 2025, Brüssel

1,3 Billionen Euro muss Europa bis 2040 in seine Stromnetze investieren. Öffentliches Geld dafür gibt es kaum. Die Kommission übt sich im Zweckoptimismus, wonach die Investitionen sich quasi von selbst finanzieren würden.


Statt „Green Deal“ heißt Europas Parole nun „Clean Deal“. Doch auch der Schwenk weg von ehrgeiziger Klimaschutzpolitik zu einer pragmatischeren Jugendkur der europäischen Industrie, die en passant zu weniger Emissionen führen soll, kommt ins Stocken. Nach starkem Druck aus den Hauptstädten sah sich die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, dazu gezwungen, zwei wichtige politische Vorhaben zu verschieben, die eigentlich am Mittwoch hätten vorgestellt werden sollen.


Widerstand der Hauptstädte


Sowohl die präventive Reform des Klima-Grenzzolls namens CBAM, der ab dem neuen Jahr den Preisvorteil von Importen aus Drittstaaten mit weniger strengen Umwelt- und Klimaauflagen korrigieren soll, als auch ein Gesetzesvorschlag, der die Nachfrage nach klimafreundlichen Technologien aus der EU fördern soll, sind noch nicht präsentabel. Die Enthüllung der CBAM-Reparatur ist nun für kommende Woche vorgesehen. Der „Industrial Accelerator Act“ wiederum ist frühestens Ende Jänner nächsten Jahres spruchreif.


So blieb der Kommission am Mittwoch nur ein großes Vorhaben zu verkünden: Ein Paket an Maßnahmen, um den Ausbau der Elektrizitätsnetze in der Union voranzutreiben. Hier ist der Investitionsbedarf ebenso dringlich, wie gigantisch. Rund 1,3 Billionen Euro an Investitionen in die Reparatur und den Neubau der Stromnetze seien bis zum Jahr 2040 erforderlich, mahnte Energiekommissar Dan Jørgensen bei einer Pressekonferenz. Demgegenüber stehen aber nur rund 30 Milliarden Euro, welche laut dem Vorschlag der Kommission für den nächsten Finanzrahmen der Jahre 2028 bis 2034 das Programm „Connecting Europe“ speisen sollen.


97 Prozent von Privatinvestoren


Das wäre zwar, sofern die Mitgliedstaaten diesem Vorschlag zustimmen, fünfmal mehr Geld, als „Connecting Europe“ in der laufenden Haushaltsperiode umfasst. Mehr als 97 Prozent des veranschlagten Investitionsvolumens müssten aber von privaten Investoren bezahlt werden. Wie will die EU das Investieren in den Netzausbau für private Geldgeber attraktiv (also lukrativ machen), wenn das politische Ziel der Übung darin besteht, die Strompreise für Unternehmen und Haushalte nicht noch weiter steigen zu lassen?


Der frühere dänische Energieminister Jørgensen antwortete dialektisch. Gewiss gehe es um große Summen, „aber wenn wir nicht investieren, werden die Kosten enorm.“ Er zitierte eine Studie, der zufolge im genannten Zeitraum der kommenden 15 Jahre die Hälfte der produzierten Energie verloren ginge, wenn nicht rasch die nötigen Netzkapazitäten geschaffen würden. Als Beispiel nannte er eine Erfahrung aus seiner Zeit als Minister. Zeitweise wurden dänische Windparks von Deutschland dafür bezahlt, die Windräder abzuschalten, weil die deutschen Netze nicht dafür geschaffen waren, so viel dänischen Windstrom aufzunehmen, und zu verteilen.


Doch was passiert, wenn sich Mitgliedstaaten weigern, den Ausbau einer grenzüberschreitenden Stromleitung in Angriff zu nehmen? Politisch ist damit für kaum eine Regierung etwas zu gewinnen. Solche Projekte sind teuer, sie dauern typischerweise länger, als die Amtszeit von Politikern währt, ihr Nutzen ist den Bürgern schwer zu veranschaulichen, und schnell bringt man medial verstärkte Anrainerinitiativen gegen 380-kV-Leitungen auf die Barrikaden.


Die Kommission liefert dafür in ihrem Netzpaket keine echte Lösung. Neben einer rechtlich unverbindlichen Mitteilung enthält das Paket nur zwei Novellen der geltenden Regeln für die transeuropäischen Netze, und zur Beschleunigung behördlicher Genehmigungsverfahren.


Ob Europas Stromnetze ausgebaut werden können, ist also fraglich. Das ist aber Voraussetzung dafür, dass die umfassende Elektrifizierung des Energiewesens glückt. Nur, wenn das stetig wachsende Angebot an Wind- und Sonnenstrom vor allem industriellen Abnehmern gezielt zur Verfügung gestellt werden kann, wird sich Europa von den Importen fossiler Energieträger freispielen können.


Widerstand gegen „Buy European“


Ein Vorstoß, um die Nachfrage nach europäischer „sauberer“ Technologie zu stärken, ist allerdings der Grund dafür, wieso der eingangs erwähnte Industrial Accelerator Act auf so viel Widerstand bei den Mitgliedstaaten stieß, dass seine Vorstellung auf das neue Jahr verschoben werden musste. Der für Industriepolitik zuständige Vizepräsident der Kommission, Stéphane Séjourné, will es zur Pflicht für öffentliche Auftragnehmer machen, bei Vergaben auf die europäische Herkunft von Produkten zu achten.


Diese „Buy European“-Pflicht brachte allerdings eine Phalanx kleinerer Mitgliedstaaten auf, die davor warnten, dass man damit auch verlässliche Partner wie Japan oder Südkorea vor den Kopf stoßen würde (eine japanische Industriedelegation sprach diesbezüglich in Séjournés Kabinett vor, berichtete „Politico“). Auch die Generaldirektion Handel in der Kommission soll skeptisch sein. Über die Weihnachtsfeiertage hat die Kommission nun Zeit, sich einen neuen Anlauf zu überlegen.

Von unserem KorrespondentenOLIVER GRIMM