Flucht nach vorn

11. August 2021

Quelle: Handelsblatt, 09.08.2021 (S. 001)

Die Stahlindustrie liefert sich ein Rennen um die CO2 – freie Produktion. Der Druck durch die Kunden steigt – vor allem Autohersteller verlangen grünen Stahl.

Die Zukunft der Stahlindustrie hat in Salzgitter bereits begonnen: Vor Kurzem meldete der gleichnamige Stahlhersteller, dass er noch in diesem Jahr CO2 – reduzierten Flachstahl an vier Mercedes-Werke ausliefern will. Gegenüber herkömmlichen Blechen sei der CO2 – Fußabdruck bei grünem Stahl um 66 Prozent geringer. Das hat sich Salzgitter vom Tüv Süd zertifizieren lassen – als erster Stahlhersteller in Europa.

Auf den ersten Blick ist es ein kleiner Auftrag, für Gunnar Groebler, seit Juli neuer Salzgitter-Chef, aber „ein wichtiger Baustein unserer Dekarbonisierungsstrategie“, wie er dem Handelsblatt sagte. Und tatsächlich markiert der Auftrag eine fundamentale Wende für die gesamte Branche. Seit Jahrzehnten gehört die Stahlproduktion zu den größten Klimasündern. Viele Millionen Tonnen CO2 fallen in der Branche als Prozessgase an – und ohne einen tiefgreifenden und teuren technologischen Wandel lassen sich die nicht eliminieren.

Doch nun kommt Bewegung in den Markt. „Die Nachfrage nach grünem Stahl steigt“, sagt Nicole Voigt, Partnerin bei der Strategieberatung BCG. Denn die Autohersteller und auch andere Verbraucher stünden unter dem Druck, ihre Emissionen zu senken. So will etwa Daimler seine Lieferkette bis 2039 dekarbonisieren und Lieferanten auf eine CO2 – neutrale Produktion verpflichten. Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut, einem globalen Thinktank für Nachhaltigkeit, geht davon aus, dass in den nächsten Jahren „hinreichend grüner Stahl für den Einstieg in eine klimaverträgliche Produktion von Fahrzeugen vorliegen sollte“.

Die Pläne für den Einkauf CO2 – reduzierter Produkte liegen bei vielen Autoherstellern bereits vor. So will nicht nur Daimler eine CO2 – freie Lieferkette aufbauen, was auch die Stahllieferungen betrifft. Auch VW und BMW wollen ihre Wertschöpfung dekarbonisieren – und sind deshalb ebenso darauf angewiesen, dass auch der Stahl, von dem im Schnitt eine Tonne pro Fahrzeug benötigt wird, aus klimaneutralen Quellen kommt.

Denn heute zählt Stahl zu den CO2 – intensivsten Werkstoffen überhaupt. Allein der größte deutsche Hersteller, Thyssen-Krupp, ist mit einem Gesamtausstoß von derzeit rund 20 Millionen Tonnen für knapp drei Prozent aller Emissionen in der Bundesrepublik verantwortlich. Insgesamt stößt die Stahlindustrie hierzulande rund 40 Millionen Tonnen CO2 aus. Gemessen an den Gesamtemissionen der deutschen Industrie sind das etwa 30 Prozent.
Bislang waren es deshalb vor allem die europäischen Regierungen und die EU, die beispielsweise über Kaufverpflichtungen für Verschmutzungsrechte Druck auf die Branche zur Transformation ausübten. Doch immer häufiger fordern nun auch Kunden wie die Autohersteller ihre Lieferanten dazu auf, künftig klimaneutral zu produzieren – und das über nahezu alle Stufen der Wertschöpfungskette hinweg.

Auch Nicole Voigt von BCG sagt, dass Autohersteller, aber eben auch viele andere Stahlverbraucher, zunehmend die Emissionen in ihrer Lieferkette in den Blick nehmen: „Damit könnte sich auch das Henne-Ei-Problem hinsichtlich Angebot und Nachfrage lösen, in dem die Stahlbranche bislang gesteckt hat.“

Denn bisher krankte die CO2 – Reduktion in der Branche vor allem daran, dass unklar war, inwieweit die höheren Produktionskosten an die Kunden weitergegeben werden können. Doch nun, so heißt es in Branchenkreisen, seien die Gespräche mit potenziellen Abnehmern wie den Autoherstellern deutlich ernsthafter geworden, die mittlerweile starkes Interesse an grünem Stahl signalisierten.

Was jetzt noch bleibt, sind extrem hohe Investitionen, um den Anlagenpark für die neuen Verfahren auszurüsten. Voigt sagt: „Eins ist klar: Grüner Stahl wird am Anfang ein knappes Gut sein.“ Deshalb sei es wahrscheinlich, dass damit zunächst Produkte hergestellt werden, „für die keine so großen Tonnagen benötigt werden wie beispielsweise für die Serienfertigung eines Autos“, so die Stahlexpertin.

Hersteller brauchen Abnahmegarantien Ein Beispiel dafür wäre etwa die Sanitärindustrie: Als der Badausstatter Kaldewei etwa vor einigen Monaten zum unternehmenseigenen Digital-Gipfel einlud, war auch Thyssen-Krupps Stahlchef Bernhard Osburg zu Gast. Dabei machte Geschäftsführer Franz Kaldewei deutlich, dass seine Firma sehr an grünem Stahl interessiert sei: Schon heute seien die Badewannen des Konzerns zu 100 Prozent recyclingfähig und das Unternehmen für seine Nachhaltigkeit bekannt. „Wenn wir es jetzt noch schaffen, die CO2 – Emissionen bei der Produktion zu vermeiden, haben wir das perfekte Produkt.“

Experten sehen darin einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur klimaneutralen Produktion. „Dass sich viele große Abnehmer verpflichten wollen, künftig auf grünen Stahl umzusteigen, hilft beim Aufbau der entsprechenden Infrastruktur“, sagt Voigt. Denn die Hersteller bräuchten neben den richtigen regulatorischen Rahmenbedingungen vor allem Planungssicherheit. „Die lässt sich beispielsweise über Abnahmegarantien erreichen.“
Unter den Stahlproduzenten ist deshalb ein Wettrennen ausgebrochen, wer den grünen Stahl als Erster in nennenswerten Mengen liefern kann. Dabei steht die Branche noch vor einem großen Problem: Derzeit verfügt kein Hersteller über eine Infrastruktur, mit der sich komplett klimaneutraler Stahl herstellen ließe – geschweige denn über die finanziellen Mittel, den entsprechenden Anlagenpark zügig aufzubauen und die Vormaterialien in ausreichender Menge aufzutreiben.

Denn maßgeblich für eine grüne Stahlproduktion ist eine zuverlässige und vor allem ausreichende Versorgung mit grünem Wasserstoff. Der ist knapp und teuer – weshalb viele Hersteller zunächst Erdgas einsetzen wollen, um damit die noch klimaschädlichere Kohle im Produktionsprozess zu ersetzen. Eingesetzt wird diese derzeit vor allem im sogenannten Hochofenverfahren, das in Europa etwa zwei Drittel aller Produktionskapazitäten ausmacht.
Bis spätestens 2050 allerdings wollen Hersteller wie Salzgitter, die saarländischen Stahlhütten oder Thyssen-Krupp auf die sogenannte Wasserstoffroute umsteigen. Dabei wird das Eisenerz in Direktreduktionsanlagen mittels Wasserstoff reduziert, wobei kein CO2 , sondern lediglich Wasserdampf als Prozessgas entsteht. Das Endprodukt ist direktreduziertes Eisen (DRI), das später in einem Elektrolichtbogenofen wiederum zu Stahl geschmolzen wird.
Sowohl für den Ofen selbst als auch für die Produktion von grünem Wasserstoff braucht es allerdings große Mengen klimaneutral erzeugter Energie. Allein die deutsche Stahlindustrie dürfte nach Schätzungen der IG Metall rund 12.000 zusätzliche Windräder der Fünf-Megawatt-Klasse benötigen, um den steigenden Energiebedarf für die Wasserstoffroute zu decken.

Übergangsweise wollen viele Hersteller daher auf Erdgas setzen. Im Vergleich zum klassischen Hochofenwerk sind die Kosten dabei wegen der höheren Gaspreise hierzulande zwar tendenziell höher. Dafür ist das Verfahren aber für die Dekarbonisierung deutlich besser geeignet – auch weil sich in Elektrolichtbogenöfen eine größere Menge Schrott verarbeiten lässt, wie das Beispiel Salzgitter zeigt. Zudem lassen sich die Öfen auch rein mit grüner Energie betreiben, wenn sie zur Verfügung steht.

Hinzu kommt: Neuere Reduktionsanlagen, wie sie beispielsweise bei Salzgitter zum Einsatz kommen sollen, sind in der Lage, sowohl Erdgas, Wasserstoff als auch Gemische von beidem als Reduktionsmittel einzusetzen. So kann der Umbau der Produktion bereits beginnen, bevor ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung steht. Zudem ist das Verfahren gut erprobt – und wird beispielsweise in Ländern mit günstigeren Gaspreisen deutlich häufiger eingesetzt, wie beispielsweise in den USA, wo etwa zwei Drittel des Stahls mittels Erdgas produziert werden.
In Europa hingegen macht die Elektrostahlroute derzeit nur rund ein Drittel der Produktion aus. Weshalb viele Unternehmen hier größere Anpassungen in ihrem Anlagenpark vornehmen müssen als Konkurrenten, die bereits per Elektrostahlroute produzieren. Allein Thyssen-Krupp rechnet bis 2050 mit einem Investitionsvolumen von zehn Milliarden Euro, um den Duisburger Standort für die grüne Stahlproduktion fit zu machen – von den höheren Produktionskosten von 200 bis 300 Euro je Tonne ganz zu schweigen.

Doch derzeit sind die Bedingungen so günstig wie nie: Dank extrem gestiegener Stahlpreise konnten viele Hersteller die schmerzhafte Coronakrise hinter sich lassen. Gleichzeitig zieht sich China, das etwa die Hälfte der globalen Produktion auf sich vereint, als Lieferant zunehmend vom Weltmarkt zurück – und streicht etwa Steuervergünstigungen auf Stahlexporte, um den heimischen Rohstoffhunger der gut laufenden Binnenkonjunktur besser bedienen zu können.
Dank dieses guten Umfelds konnte der CEO von Arcelor-Mittal, Aditya Mittal, in der vergangenen Woche das beste Halbjahresergebnis der vergangenen zehn Jahre verkünden. Dabei gab der Chef des weltgrößten Stahlkonzerns in einer Telefonkonferenz mit Journalisten auch einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft: „Die regulatorischen Veränderungen in China und der wachsende Fokus auf die Dekarbonisierung könnten einen nachhaltigen positiven Einfluss auf die Stahlindustrie außerhalb Chinas haben.“

Neues Werk in Schweden geplant Und wo die Aussichten gut sind, sind Herausforderer nicht weit. So will beispielsweise der schwedische Vargas-Fonds im Norden des Landes ein neues Stahlwerk aufbauen, das 2024 die Produktion aufnehmen soll und die Kapazität bis 2030 auf fünf Millionen Tonnen steigern will, was etwa der Hälfte der Produktion von Thyssen-Krupp entspricht. Ein neues Stahlwerk in Europa: Noch vor wenigen Jahren hätte mancher Manager einen solchen Gründer wohl für verrückt erklärt.

Doch der Kreis der Anteilseigner könnte kaum prominenter sein: Neben dem Autobauer Daimler gehören dazu auch der Stahlwerksausrüster SMS, der Lkw-Hersteller Scania ebenso wie die Bilstein Group. Die Gesamtfinanzierung für die erste Phase beläuft sich nach Angaben von H2 Green Steel, wie das Unternehmen heißt, dabei auf 2,5 Milliarden Euro, die durch eine Kombination aus Eigenkapital und grüner Projektfinanzierung aufgebracht werden sollen.
Auch der schwedisch-finnische Stahlkonzern SSAB will zügig starten. Spätestens im Jahr 2026 wollen die Schweden ihre Technologie marktreif haben. Derzeit betreibt der Konzern ein Wasserstoff-Projekt in Zusammenarbeit mit dem Energieversorger Vattenfall und dem Bergbaukonzern LKAB, bei dem Eisenerz zu Eisenschwamm reduziert werden soll – ebenfalls im nordschwedischen Lulea.

Dabei sind beide Hersteller derzeit gegenüber vielen anderen europäischen Konkurrenten im Vorteil. Denn schon heute bezieht Schweden seinen Strom zu 96 Prozent aus CO2 – freien Quellen – greift dabei aber auch auf einen hohen Anteil von Nuklearenergie zurück, um den eigenen Energiebedarf zu decken. Deutschland hingegen deckt seinen Strombedarf etwa noch zu einem Drittel aus CO2 – belasteten Quellen, also vor allem Kohle und Gas.

ZITATE FAKTEN MEINUNGEN

Die Nachfrage nach grünem Stahl steigt.
Nicole Voigt Partnerin bei BCG.
Der wachsende Fokus auf die Dekarbonisierung könnte einen nachhaltigen positiven Einfluss auf die Stahlindustrie außerhalb Chinas haben.
Aditya Mittal CEO Arcelor-Mittal.
40 Millionen Tonnen CO2 stößt die deutsche Stahlindustrie jährlich aus. Das sind 30 Prozent aller Emissionen der deutschen Industrie. Quelle: Statista

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