Quelle: Die Presse, 01.09.2021 (S. 5)
Interview. Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt, Dienstleistungen und Verteidigung, warnt vor einem überhasteten Ausstieg aus der Atomenergie.
In einem Gespräch mit der „Presse“ und vier anderen europäischen Medien plädiert der für Dienstleistungen, den Binnenmarkt und Verteidigung zuständige EU-Kommissar dafür, den Ausstieg aus der Atomkraft zu bremsen. Andernfalls sei es für Europa unmöglich, bis zum Jahr 2050 netto keine Treibhausgase mehr auszustoßen. „Es gibt keinen Weg, das 2050-Ziel ohne Kernkraft zu erreichen. Keinen einzigen. Jeder, der etwas anderes sagt, hat unrecht“, erklärte Thierry Breton am Dienstag in Brüssel.
Das Vorhaben, in den kommenden drei Jahrzehnten klimaneutral zu werden, ist nicht nur eine politische Willensbekundung. Vor den Sommerferien legte die Europäische Kommission ein umfassendes Paket von Gesetzesvorschlägen vor, welches die Senkung der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 ermöglichen soll (gemessen an den Emissionen im Jahr 1990). Dieses Etappenziel auf dem Weg zur Klimaneutralität soll unter anderem das Auslaufen des Verbrennungsmotors bis zum Jahr 2035 und seine Ersetzung durch Elektromotoren und den Wasserstoffantrieb einleiten. Beide Antriebsformen werden enorme zusätzliche Kapazitäten an elektrischem Strom erfordern, gab Breton zu bedenken. „Wie erzeugt man Wasserstoff? Mit Elektrizität. In Europa wird das an sich schon schwer genug. Um das Ziel für 2050 zu erreichen, werden wir die Stromproduktion verdoppeln müssen. Wir werden das, was wir jetzt schon an Windkraft haben, verzehnfachen müssen“, gab er zu bedenken.
Breton beeilte sich aber, den Eindruck zu vermeiden, er wolle für den Bau neuer Kernkraftwerke werben oder gar den Mitgliedstaaten vorschreiben, auf welche Weise sie ihren Energiebedarf decken. „Der Energiemix ist allein Sache der Mitgliedstaaten. Das steht so in den Verträgen“, erinnerte er an jenes rechtliche Faktum, welches die österreichischen Kampagnen zur Abschaffung der Atomkraft in der EU Mal um Mal scheitern lässt. Weil: Genauso wenig, wie jemand Österreich den Bau eines Atomreaktors vorschreiben kann, kann die Republik anderen Ländern, die auf die Atomkraft setzen, selbige verbieten.
Neues Ringen um Atomkraft
Was zum politischen Hintergrund von Bretons Plädoyer für einen langsamen Ausstieg aus der Kernkraft führt. Der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister unter dem damaligen französischen Präsidenten, Jacques Chirac, und spätere Vorstandschef französischer Technologiekonzerne ist, bildlich gesprochen, Stimme und Hand des aktuellen Präsidenten, Emmanuel Macrons, im Kollegium der 27 Kommissare, wenn es um industriepolitische Grundsatzfragen geht. So eine betrifft in den nächsten Wochen auch die Kernkraft: Die Kommission muss nämlich ihre im Frühling verschobene Entscheidung treffen, ob Erdgas und Kernkraft im Sinne der EU-Begrifflichkeit als „grüne“ Übergangstechnologien gelten und somit von Investmentfonds als „grüne“ Anlagen ins Portefeuille genommen werden können.
Breton schlägt vor, dass jene Staaten, die ihre Atomkraftwerke schließen wollen (das betrifft beispielsweise Belgien), diese Reaktoren in der Übergangsphase bis zur Stilllegung vom Stromnetz nehmen und ausschließlich für die Gewinnung von Wasserstoff einsetzen. Das sei ein pragmatischer Übergang, denn: „Wir werden die Kernkraft nicht für immer verwenden.“
von unserem Korrespondenten Oliver Grimm
Die Presse