Ein blauer Hubschrauber der Bundespolizei steigt in den Himmel über der verlassenen Stadt Tschernobyl. Feuerwehrleute und Beobachter am Boden tragen in sicherem Abstand Schutzmasken. Doch ist die Gefahr hier nicht das Coronavirus: Auch 35 Jahre nach der Reaktorkatastrophe im einst sowjetischen Atomkraftwerk gibt es noch immer radioaktiv strahlende Staubpartikel.
Deutsche Fachleute sind deshalb in den Norden der Ukraine gereist, um dort mit Kollegen vor Ort eine neue Karte mit der Strahlenbelastung zu erstellen. Erste Ergebnisse deuten an, dass die Gefahr noch nicht verschwunden ist.
Die beiden Hubschrauber der Bundespolizei aus Deutschland sind täglich vier bis sechs Stunden im Einsatz. An Bord sind etwa 200 Kilogramm schwere Messsysteme. „Wir nutzen den Hubschrauber, um einen Überblick zu bekommen, und machen anschließend detailliertere Messungen am Boden“, erklärt Christopher Strobl vom Bundesamt für Strahlenschutz. Bei einer Flughöhe von 100 Meter haben die Helikopter einen Sichtbereich von 500 Metern. „Am Boden können wir dann deutlich detaillierter die radiologische Lage beurteilen.“
Am 26. April 1986 explodierte nach einem fehlgeschlagenen Experiment der Reaktor vier des damals sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl. Das Unglück, das gut 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew geschah, gilt als die größte Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft. Tausende Menschen starben. Hunderttausende wurden zwangsumgesiedelt. Bis heute sind weite Landstriche in den ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus (Weißrussland) und Russland verstrahlt.
Einer der deutschen Hubschrauberpiloten ist Silvio Renneberg von der Fliegerstaffel Blumberg in Brandenburg. „Das ist ein besonderes Gefühl, dass man hier auch mal vor Ort ist, was man so im Fernsehen gesehen hat“, sagt der sehr erfahrene Pilot der Deutschen Presse-Agentur in Tschernobyl. In 16 Jahren hat er 2.600 Flugstunden angesammelt. Alle Piloten hätten sich freiwillig gemeldet. „Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass viel mehr Nein sagen.“
Mögliche Ängste seien ihnen in einem Vorbereitungsseminar durch das für den Einsatz verantwortliche Bundesamt für Strahlenschutz genommen worden. „Natürlich hatten wir wirklich sehr, sehr viele Fragen, weil wir uns ja nicht alltäglich damit beschäftigen“, sagt Manuela Uhlig und lobt die Vorbereitung. „Man wusste halt nur, dass hier etwas ganz Schlimmes passiert ist, dass das hier eine Sperrzone ist.“
Direkt über dem verunglückten Reaktor mit seiner rund zwei Milliarden Euro teuren und 2016 eingeweihten Stahlhülle dürfen die Hubschrauber nicht fliegen. Zu groß ist den ukrainischen Behörden das Risiko eines möglichen Absturzes gewesen. Drohnen des ukrainischen Staatsunternehmens Ekozentr sorgen für Messergebnisse.
Bei dem mittlerweile dritten Einsatz in der rund 2.600 Quadratkilometer großen ukrainischen Sperrzone – das entspricht etwa der Fläche des Saarlandes – wird nicht allein per Hubschrauber gemessen. Die aus Mitarbeitern des Katastrophenschutzes des westukrainischen Atomkraftwerks Riwne und des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz bestehenden mobilen Teams arbeiten am Boden 200 Messpunkte ab.
„Alle Messpunkte sind miteinander durch Straßen verbunden, damit sie mit dem Fahrzeug erreichbar sind“, erläutert Daniel Esch vom Bundesamt für Strahlenschutz. Dabei werden mit einem Handbohrer 15 Zentimeter tiefe Proben genommen, die wiederum in 2,5 Zentimeter große Schichten unterteilt werden. Zuvor musste jedoch geklärt werden, ob der Boden unbearbeitet ist, da die damals sowjetischen Behörden nach der Atomkatastrophe große Gebiete umpflügen ließen.
„Je tiefer das Cäsium im Boden sitzt, um so geringer trägt es zur Hintergrundstrahlung bei“, erklärt Physiker Esch den Hintergrund. Die Auswertung wird dabei sofort von einem örtlichen Labor in Tschernobyl vorgenommen. Für die Bodenteams treten jedoch auch unerwartete Schwierigkeiten in dem verlassenen Gebiet auf. „Mitunter mussten die Kollegen wegen umgestürzter Bäume zur Kettensäge greifen, um die Straße passierbar zu machen“, sagt Esch der dpa.
Die Ergebnisse der Messungen sollen im April auf einer Fachtagung präsentiert werden. Vorab kann Christopher Strobl vom Bundesamt bereits sagen, dass die Cäsiumverteilung derjenigen ähnelt, die in den 1990er Jahren von den örtlichen Kollegen erstellt wurde. „Das heißt, wir haben das bestätigt, was die Kollegen damals in aufopferungsvoller Arbeit geleistet haben.“
Das zum Biosphärenreservat erklärte Gebiet ist inzwischen nicht mehr komplett menschenleer. „Unser Ziel ist heute, die Sperrzone als Territorium der Entfremdung in ein Territorium der Wiedergeburt zu verwandeln“, gab Präsident Wolodymyr Selenskyj am 35. Jahrestag der Katastrophe im Frühjahr als Marschroute aus. 2018 wurde bereits ein erstes Solarkraftwerk von einem Megawatt Leistung neben der Atomruine errichtet. Weitere sollen folgen. So der Plan.
Ähnliches ist aus dem benachbarten Belarus von Machthaber Alexander Lukaschenko zu vernehmen. Es gebe immer weniger Orte, in denen die Grenzwerte der Strahlung überschritten würden, sagte er unlängst der Staatsagentur Belta zufolge. „Aber was viel wichtiger ist: Wir produzieren wieder Lebensmittel, die man essen darf. Hier wohnen Menschen, hier werden Familien gegründet und Kinder geboren.“
Die Grenze zu Belarus ist nur gut 10 Kilometer vom stillgelegten Kraftwerk entfernt. Die frühere Sowjetrepublik war wie kein anderes Land von der Katastrophe betroffen. Ähnlich wie in der Ukraine wurde ein großes Gebiet im Süden um die Stadt Gomel zum Schutzgebiet erklärt. Die Natur hat sich allmählich die früher vom Menschen bewohnten Flächen zurückerobert. Umweltschützer berichten stolz, dass dort inzwischen zum Teil bedrohte Tier- und Pflanzenarten leben.
In dem Staatlichen Radioökologischen Schutzgebiet stehen noch immer verlassene Wohnhäuser und Betriebe, die weiter zerfallen. 96 Dörfer gab es dort laut der zuständigen Verwaltung. Vor dem Unfall hätten dort 22.000 Menschen gelebt. Andere Gebiete im Süden des Landes, die aus Sicht der autoritären Behörden nicht mehr so stark belastet sind, aber noch regelmäßig überwacht werden, dürfen dagegen bewohnt werden.
Bekannter ist das Tschernobyl-Sperrgebiet jedoch inzwischen als Ziel für Touristen. „Hol dir deinen Schuss Adrenalin“, werben Veranstalter für einen Trip zum Unglücksreaktor und die Geisterstadt Prypjat. 2019 war der bisherige Höhepunkt mit über 120.000 Touristen in der Zone. Wegen der Corona-Pandemie ging die Zahl im vorigen Jahr deutlich zurück. Doch nun kommen wieder Dutzende vor allem westliche Besucher in die Sperrzone. Selbst in der Werkskantine werden Souvenirs angeboten – und Touren auf Deutsch, Polnisch und Englisch.
Doch ungehindert bewegen können sich die Touristen nicht. Regelmäßig werden inzwischen die Straßen nach Prypjat und zum ehemaligen Kraftwerk in der Sperrzone für mehrere Stunden gesperrt. Grund sind die Atommülltransporte vom Nasslager für verbrauchte Brennstäbe der drei stillgelegten Kernreaktoren sowjetischer Bauart in das nahe mit europäischen Geldern errichtete neue Trockenlager.
„Sie kündigen das meist nur kurzfristig an“, beklagt sich Tschernobyl-Tourguide Olha. Dann müssen die Touristengruppen außerhalb der 10-Kilometer-Sperrzone warten. Insgesamt sollen so über 21 000 Brennstäbe fachgerecht gesichert und einbetoniert die nächsten 100 Jahre in der Sperrzone zwischengelagert werden.
Und das ist nicht das einzige Atommülllager im Sperrgebiet. Knapp zwölf Kilometer Luftlinie westlich vom Unglücksreaktor hat die Ukraine ein Areal für mehrere Zwischenlager eingerichtet. „Zum heutigen Tag sind zwei Lager in Betrieb, die Abfälle aufnehmen“, erklärt der Leiter des Komplexes, Serhij Kirjejew. 82 Mitarbeiter seien es aktuell. Fünf Prozent der Kapazitäten für schwach- und mittelradioaktive feste Abfälle vor allem industrieller und medizinischer Herkunft seien schon belegt.
50 bis 100 Jahre sollen sie vor Ort bleiben. Insgesamt ist das Areal bereits jetzt auf 300 Jahre ausgelegt. Und eine zweite Linie ist bereits projektiert. Der Bauplatz wird vorbereitet. „Das wird ein Komplex an Lagerstätten für hochaktive radioaktive Abfälle“, erklärt der 35-Jährige.
Kiew ist vertraglich verpflichtet, in der russischen Anlage Majak wiederaufbereiteten Atommüll aus seinen Kernkraftwerken wieder zurückzunehmen. Diese radioaktiven Abfälle sollen in Kirjejews Komplex für 100 Jahre zwischengelagert werden. Losgehen soll es 2022 oder 2023. Doch für lang strahlende Abfälle sind die oberirdisch errichteten Zwischenlager keine Lösung. Auch die Ukraine sucht ähnlich wie Deutschland noch nach einem unterirdischen Endlager für diese atomaren Hinterlassenschaften.
APA/dpa