Comeback der Kernkraft

21. September 2021, Atomkraft

In Deutschland ist Atomkraft ein Tabuthema. Der künftigen Bundesregierung drohen dadurch Konflikte in Brüssel.

Unionskanzlerkandidat Armin Laschet formulierte bei der zweiten Fernsehdebatte zur Bundestagswahl einen Gedanken, der ihm offenbar selbst nicht ganz geheuer war. Deutschland habe im Kampf gegen den Klimawandel einen schweren Fehler begangen, es sei falsch gewesen, „zuerst aus der Kernenergie auszusteigen und dann aus der Kohle“, sagte Laschet – nur um schnell hinterherzuschieben: „Das ist jetzt Geschichte.“ Keine politische Kraft, diese Szene zeigte es, wagt es, den Ausstieg aus der Kernenergie ernsthaft infrage zu stellen. Bei allem Drang der Kandidaten, sich voneinander abzugrenzen: Atomkraft bleibt ein politisches Tabu.


In anderen EU-Staaten zeigt man für die Inbrunst, mit der die Deutschen die Kernkraft ablehnen, kein Verständnis. Vor allem Frankreich wähnt Deutschland auf einem Irrweg. Es ist kein Zufall, dass der französische EU-Industriekommissar Thierry Breton in Brüssel der Wortführer für eine Rückbesinnung auf die Kernkraft ist. „Wir sollten diese Übergangsenergie nutzen, um den Aufbau einer sauberen Wasserstoffindustrie in Europa zu erleichtern“, fordert er. Breton plädiert dafür, neben „grünen“, das heißt aus erneuerbaren Energien wie Wind und Strom gewonnenen Wasserstoff auch auf „gelben“ Wasserstoff zu setzen – auf Wasserstoff also, der klimaneutral aus Atomstrom hergestellt wird.


Unabhängig vom deutschen Wahlausgang ist damit klar: Der künftigen Bundesregierung steht in Brüssel ein schwerer Konflikt um die Atomenergie bevor. Selbst wenn im kommenden Jahr der letzte deutsche Meiler vom Netz geht – das Reizthema Kernkraft wird der Politik erhalten bleiben.


In der Kommission wird seit Monaten darum gerungen, ob gelber Wasserstoff den Kriterien der EU, der sogenannten Taxonomie, genügen soll. Vom EU-Parlament, sonst oft Impulsgeber in europäischen Debatten, ist wenig zu erwarten. Es hat die Frage ausgeklammert, „da es hierzu keine eindeutigen politischen Mehrheiten“ gebe, wie CDU-Politikerin Hildegard Bentele erläutert. Der Energiemix bleibe „nationale Angelegenheit“.


Das bedeutet aber auch: Die Kommission wird berücksichtigen müssen, dass der deutsche Atomausstieg in der EU kaum Nachahmer gefunden hat. Vieles spricht derzeit dafür, dass die Brüsseler Beamten am Ende der Kernkraft das Klimasiegel verleihen werden, wenngleich sie derzeit noch still halten, aus Rücksicht auf den Bundestagswahlkampf.
Berlin ist alarmiert. Kernenergie sei eine „Hochrisikotechnologie“ und dürfe daher nicht mit Wind- und Solarstrom gleichgestellt werden, stellte Umweltministerin Svenja Schulze kürzlich in einem Brief an die Kommission klar. Ihre Amtskollegen aus Luxemburg, Dänemark, Spanien und Österreich schlossen sich ihr an. Ganz allein steht Deutschland also nicht.


Doch es bleiben Fragen. Auch deutsche Experten weisen darauf hin, dass der Weg zur klimaneutralen Industrie mit grünem Wasserstoff allein kaum gelingen kann. Grüner Wasserstoff ist bisher nur in homöopathischen Dosen verfügbar, er wird noch über Jahre knapp und teuer sein. Allein die deutsche Stahlindustrie dürfte nach Schätzungen der IG Metall 12.000 zusätzliche Windräder der Fünf-Megawatt-Klasse benötigen, um ihren Strombedarf für die Herstellung von grünem Wasserstoff abzudecken.


Die nationale Wasserstoffstrategie setzt daher auch darauf, Partnerschaften für die Produktion von grünem Wasserstoff mit dem Ausland zu schließen. Doch es wird noch Jahre dauern, ehe sich daraus belastbare Lieferbeziehungen entwickeln.


Aus französischer Sicht ist die deutsche Debatte bizarr. Das Nachbarland bezieht mehr als 70 Prozent seines Stroms aus Atomenergie, der staatliche Energiekonzern EDF betreibt 58 Reaktoren an 18 Standorten. Entsprechend viel steht für Paris auf dem Spiel. Sollte die Kernkraft in den grünen Investitionsregeln der EU-Taxonomie zur unerwünschten Energieform erklärt werden, könnte das auch erhebliche Auswirkungen auf die Finanzierung der französischen Atomanlagen nach sich ziehen.


Auch Präsident Emmanuel Macron hat daher einen Brief an die Kommission geschickt, gemeinsam mit sechs anderen europäischen Staats- und Regierungschefs. Er fordert „faire Spielregeln“ für die Kernkraft. Noch deutlicher wurde vor ein paar Tagen sein Finanzminister Bruno Le Maire: „Entweder kämpfen wir gegen den Klimawandel mit einem ideologischen Ansatz und wir scheitern, oder wir kämpfen gegen den Klimawandel mit einem wissenschaftlichen Ansatz und werden Erfolg haben.“


Deutschland ist auf diese Debatte schlecht vorbereitet. Dass grüner Wasserstoff allein die Lösung ist, bezweifeln selbst Fachleute wie Rainer Baake, Direktor der Stiftung Klimaneutralität. Baake ist Mitglied der Grünen und gilt als ein Vordenker seiner Partei in der Energie- und Klimapolitik.


Die entscheidende Frage laute, „ob wir die wirklich großen Mengen Wasserstoff, die wir für 65 Prozent Treibhausgasminderung bis 2030 brauchen, ausschließlich grün produzieren können“, sagte Baake dem Handelsblatt. „Wenn ja, gut so. Wenn die Alternative aber lautet, blauen Wasserstoff übergangsweise zuzulassen oder das Klimaziel zu verfehlen, hätte ich eine klare Priorität.“


Blauer Wasserstoff wird aus Erdgas hergestellt, dabei frei werdendes CO2 wird unterirdisch gespeichert. Länder wie Norwegen oder die Niederlande treiben die Technologie voran und sind mit deutschen Abnehmern aus der Industrie in konkreten Verhandlungen. Doch viele Klimaschützer lehnen blauen Wasserstoff ab, auch für eine Übergangszeit.
Dann also doch über gelben nachdenken? Baake ist skeptisch: „Die bestehenden Atomkraftwerke in Frankreich braucht das Land für seinen heutigen Strombedarf. Alles, was jetzt an neuen Anwendungen hinzukommt, etwa für Elektromobilität oder die Elektrifizierung der Industrie, bedarf zusätzlicher Kapazitäten. Atomenergie ist schlicht zu teuer.“


Das sehen die Franzosen anders. Die Regierung in Paris hebt in ihrer Wasserstoffstrategie hervor, das Land sei wegen seines „wenig CO2 verursachenden Strommixes“ in einer guten Position, um das Gas auf klimafreundliche Weise herzustellen. Zwar will Frankreich den Anteil von Atomstrom in seinem Energiemix perspektivisch auf 50 Prozent senken, das Zieldatum wurde aber von 2025 auf 2035 verschoben.


Zugleich strebt Frankreich eine enge Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik an, um Wasserstoff gerade in energieintensiven Branchen bezahlbar zu machen. Nur: Der entscheidende politische Punkt bleibt zwischen Berlin und Paris umstritten. Die Frage, ob gelber Wasserstoff grün genug ist.


Deutschland stünde mit einer rigorosen Haltung auch vor ganz praktischen Problemen. Nach Überzeugung des Bundeswirtschaftsministeriums lässt sich der Einsatz von gelbem Wasserstoff nicht einfach verbieten. „Eine gezielte gesetzliche Verhinderung bestimmter Importe aus legaler Erzeugung im Herkunftsmitgliedstaat wäre mit den geltenden Binnenmarktregeln nicht vereinbar“, sagt eine Sprecherin.


Allerdings würden staatliche Zertifizierungssysteme aufgebaut, mit denen sich die Herkunft des Wasserstoffs nachweisen lasse. Legt sich Deutschland also ein eigenes Klimasiegel zu, wenn die EU Kernenergie als grüne Technologie einstufen sollte? Oder wird Berlin Druck auf die Kommission ausüben, damit die Klima-Klassifizierung doch noch deutschen Vorstellungen entspricht?


Im Umfeld von Macron ist schon die Sorge zu vernehmen, dass die nächste Bundesregierung einen noch konfrontativeren Kurs bei der Kernkraft fahren könnte. Vor allem, wenn die Grünen stark darin vertreten sind.

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Wir sollten diese Übergangsenergie nutzen, um den Aufbau einer sauberen Wasserstoffindustrie in Europa zu erleichtern.

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