Der deutsche Ausstieg aus der Atomenergie bis Ende 2022 wird von einem breiten politischen Konsens getragen. Andere europäische Länder setzen dagegen weiter auf Kernkraftwerke.
In Deutschland ist Kernkraft bald Geschichte. Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 hatte die Bundesregierung den Ausstieg aus der Technologie beschleunigt. Im kommenden Jahr sollen die letzten Anlagen vom Netz gehen. In der deutschen Nachbarschaft setzt aber eine Reihe von Ländern weiter auf Atomenergie.
An der Spitze der Kernkraft-Verfechter steht Frankreich: Das Nachbarland bezieht mehr als 70 Prozent seines Stroms aus Atomenergie, der staatliche Energiekonzern EDF betreibt 58 Reaktoren an 18 Standorten. Zwar will Frankreich den Anteil von Atomstrom in seinem Energiemix perspektivisch auf 50 Prozent senken, das Zieldatum wurde unter Präsident Emmanuel Macron aber von 2025 auf 2035 verschoben. Probleme hat Frankreich mit dem Bau eines neuen Reaktors in Flamanville im Nordwesten des Landes. Das einstige Prestigeprojekt hat sich mittlerweile ein Jahrzehnt verzögert, die Kosten haben sich verdreifacht. Mit der Inbetriebnahme des „Europäischen Druckwasserreaktors“ (EPR) wird frühestens Ende 2022 gerechnet.
Der neue Reaktortyp soll auch in Finnland zum Einsatz kommen, das Bauprojekt in Olkiluoto an der Westküste des Landes ist aber ebenfalls schwer im Verzug. Trotz aller Pannen und extrem gestiegener Baukosten des Olkiluoto-3-Reaktors wird bereits ein sechster Reaktor in Hanhikivi südwestlich von Oulo geplant. Der Bauantrag steht noch aus. Klimaneutralität bis 2035 sei nur durch den Einsatz von Atomkraft und erneuerbaren Energieträgern möglich, heißt es vonseiten der Mitte-links-Regierung von Ministerpräsidentin Sanna Marin. Widerstände gegen den Ausbau der Atomenergie sind überschaubar, selbst Vertreter der Grünen halten die CO2 – freie Atomkraft für eine Übergangslösung auf dem Weg zur Klimaneutralität. Derzeit sind vier Reaktoren in Betrieb, die ein knappes Fünftel des Strombedarfs liefern.
Finnlands Nachbar Schweden mit seinen derzeit sechs laufenden Reaktoren fährt einen Zickzackkurs in Bezug auf die Atomkraft. In den frühen 1980er-Jahren wurde der Ausstieg aus der Atomkraft bis 2010 beschlossen. Knapp 30 Jahre später war dieser Beschluss wieder Makulatur. Mittlerweile gilt, dass an den Standorten der bisherigen Reaktoren neue Kraftwerke gebaut werden dürfen. Angesichts der hohen Kosten ist es allerdings unwahrscheinlich, dass sich ein Konsortium für den Neubau findet. Denn staatliche Subventionen soll es nicht mehr geben. Schweden bezieht knapp 40 Prozent seines Stroms aus Atomkraft, der Rest stammt aus erneuerbaren Energien.
Raus aus der Kohle, rein in die Atomkraft
Polen wird wegen des höchsten Kohleanteils in seiner Wärme- und Stromproduktion heftig kritisiert und will als letztes Land der EU erst 2049 aus der Kohle aussteigen. Bislang werden 70 Prozent der Elektrizität und der Wärme aus Kohle produziert, zumeist aus Braunkohle und schlesischer Steinkohle. Um den Ausstieg zu schaffen, sollen laut der polnischen Energiestrategie „Polityka Energetyczna Polski“ (PEP) nun sechs Reaktoren in zwei Atomkraftwerken gebaut werden. Der Baubeginn ist für 2026 geplant, der erste Meiler soll 2033 in Betrieb gehen, die weiteren bis 2040. Die jetzt geplanten AKW werden vermutlich im nur rund 150 Kilometer Luftlinie von der deutschen Grenze entfernten Zarnowiec bei Danzig und im nahe gelegenen Lubiatowo-Kopalino stehen.
Weiter auf die Kernkraft setzt auch Großbritannien, wo sieben Atomkraftwerke 17 Prozent des Stroms produzieren. Dieser Anteil wird sich bis 2024 allerdings halbieren, weil vier dieser Kraftwerke bis dahin abgestellt werden. Ein neues Atomkraftwerk, Hinkley Point C, ist derzeit im Bau und soll 2026 ans Netz gehen. Ein weiteres, Sizewell C, ist in einem fortgeschrittenen Planungsstadium. Zusammen sollen sie den Anteil des Atomstroms am Energiemix langfristig stabil halten. In einem Zehn-Punkte-Plan für die „grüne Revolution“ hat Premier Boris Johnson die Atomkraft als wesentlichen Pfeiler der Dekarbonisierung beschrieben. Seine Regierung will eine halbe Milliarde Pfund für den Bau neuer Atomkraftwerke bereitstellen.
Zurück ist die Debatte über Kernkraft in Italien, wo das Thema eigentlich vom Tisch schien. Nach der Katastrophe von Tschernobyl entschied das Land, seine damals vier vorhandenen Kraftwerke abzuschalten. Mehr als 20 Jahre später startete der damalige Premier Silvio Berlusconi den Versuch, die Nuklearenergie wiederzubeleben. Doch 2011 entschied sich das Volk gegen den Wiedereinstieg – mit einer klaren Mehrheit von mehr als 94 Prozent. Der neueste Vorstoß für die Kernkraft kommt nun ausgerechnet vom Minister für den ökologischen Wandel: Der Physiker Roberto Cingolani, seit Februar im Kabinett von Premier Mario Draghi, will nicht ausschließen, in Zukunft Reaktoren der „vierten Generation“ im Land zu bauen. Will Italien seine Klimaziele erreichen, müsste das Land zehn Mal so viel Erneuerbare pro Jahr installieren wie bisher. Das ist kaum zu schaffen. M. Brüggmann, H. Steuer, C. Volkery, G. Waschinski, C. Wermke
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