Nachfrageboom bei Flüssiggas treibt die Preise

5. Oktober 2021

In Asien steigt der Bedarf an dem Flüssigerdgas LNG drastisch – und auf der Angebotsseite droht eine Verknappung. Shell warnt bereits vor einer Versorgungslücke.

Vor einem Jahr gab es noch zu viel Flüssigerdgas im Weltmarkt. Die Preise waren so niedrig, dass Bauvorhaben für LNG-Terminals eingestampft wurden. Jetzt ist die Nachfrage nach Liquified Natural Gas (LNG), also verflüssigtem Erdgas, so explodiert, dass sie weltweit die Gaspreise treibt – und mitverantwortlich für den gegenwärtigen Engpass in Europa ist.


Seit neun Monaten steigt der Preis für Erdgas immer weiter und erreichte zuletzt ein Allzeithoch. Am Freitag erreichte die Megawattstunde (MWh) des fossilen Energieträgers an der Terminbörse ICE den Rekordpreis von 100 Euro. Normalerweise schwankt der Preis im Jahresdurchschnitt zwischen 15 und 20 Euro pro MWh.


Die Nachfrage ist aktuell aber gewaltig: „Der Export von Gas boomt derzeit, nicht nur nach Europa, auch nach Asien und zuletzt auch Mexiko“, sagt Barry Rabe, Professor für Umweltpolitik an der University of Michigan und Senior Fellow des Thinktanks Brookings. Und LNG spielt bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle.


Der Bedarf an Gas ist nach kalten Wintern und wegen leerer Speicher schließlich überall auf der Erde groß – und der Wettstreit um die Tanker, mit denen Gas in verflüssigter Form weltweit gehandelt wird, enorm. Europa, das LNG als Alternative zu russischem Pipelinegas etablieren will, konkurriert vor allem mit der stark gestiegenen Nachfrage aus Asien.


Um Gas mit Tankern weltweit verschiffen zu können, wird Erdgas in den Förderländern bei Temperaturen von minus 160 Grad Celsius verflüssigt. In den Importländern wird das LNG dann wieder zu Erdgas aufbereitet. Die Nachfrage nach LNG dürfte auch langfristig hoch bleiben, weil Gas nicht nur in Europa, sondern auch weltweit bei der Energiewende und der Abkehr von Kohle als bevorzugte Brückentechnologie gilt. Zwar verursacht sie einen hohen Ausstoß des Treibhausgases Methan, das um ein Vielfaches klimaschädlicher ist als das allseits gefürchtete Kohlendioxid CO2 . Doch trotzdem verursacht Erdgas insgesamt nur halb so viele Emissionen wie Kohle.
Zudem gilt Flüssigerdgas auch in der Schifffahrt als Treibstoff der Zukunft und als Alternative zu Schweröl und Diesel. In seiner aktuellen Energie-Prognose geht der britische Ölkonzern BP davon aus, dass Gas in den nächsten 20 Jahren nach den Erneuerbaren die am schnellsten wachsende Energiequelle sein wird – und LNG wird dabei eine große Rolle spielen.


Shell warnt angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach Flüssigerdgas bereits davor, dass es Mitte der 2020er-Jahre zu einer Versorgungslücke kommen könne. Verschärft wird die Situation von einer rasant steigenden Nachfrage – und einem Mangel an neuen Kapazitäten auf der Produktionsseite.
China auf dem Weg zum weltgrößten LNG-Importeur Ein Faktor für die Gasnachfrage ist das Wirtschaftswachstum, das nach der Corona-Pandemie schneller angezogen ist als erwartet. Ein Sprecher des Gaskonzerns VNG erläutert: „Besonders in Asien ist nach dem Corona-Lockdown ein wirtschaftlicher Nachholbedarf zu beobachten, vor allem in China.“

Die Volksrepublik hat einen schier unstillbaren Hunger nach dem verflüssigten Erdgas entwickelt. Allein im ersten Halbjahr stiegen LNG-Importe in die Volksrepublik im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent. Im Sommer war der Energiebedarf für Klimaanlagen stark gewachsen. Und auch die von der Regierung in Peking gewünschte Abkehr von der Kohle und geringere Erträge aus der Wasserkraft aufgrund von Dürren befeuern die Gasnutzung.
Hinzu kommt eine erhöhte LNG-Nutzung im Transportsektor. 2020 entfielen allein auf diesen Bereich in China rund 13 Millionen Tonnen LNG, die eine Flotte von 500.000 Lkw und Bussen angetrieben haben. Damit hat sich der Bedarf gegenüber 2018 fast verdoppelt, rechnet Shell in seinem alljährlichen LNG-Report vor. Marktbeobachter rechnen damit, dass China bis Jahresende Japan als weltgrößten Importeur ablösen wird.
LNG-Bedarf in Bangladesch könnte sich bis 2023 verdoppeln Bangladesch – einer der größten Wachstumsmärkte für LNG – hatte eigentlich im August beschlossen, sich angesichts des starken Preisanstiegs von den Spotmärkten zurückzuziehen. Damals lagen die Kosten bei rund 15 Dollar je MMBtU (Millionen britische Wärmeeinheiten), fast das Doppelte von dem, was das Land normalerweise zu zahlen bereit ist. Doch kein Gas zu kaufen kann sich das Schwellenland noch weniger leisten.


Besonders deutlich zu spüren bekam das in den vergangenen Wochen die Textilbranche des Landes – der wichtigste Treiber des Außenhandels. „Die Produktion in unseren Fabriken ist von der verschlechterten Gasversorgung massiv betroffen“, klagt Mohammad Ali Khokon, der Chef der Branchenvereinigung BTMA. In wichtigen Industriegegenden liefen die Fabriken nur noch mit halber Kapazität, berichten lokale Medien – obwohl die Nachfrage nach Modeartikeln aus dem Land im Zuge der globalen wirtschaftlichen Erholung eigentlich steigt.


Um den Energiehunger der Industrie zu stillen, beschloss das Energieministerium in Dhaka diese Woche, LNG doch wieder an den kostspieligen Spotmärkten einzukaufen – trotz noch höherer Preise, die zwischenzeitlich auf knapp 30 Dollar je MMBtU gestiegen waren und damit für diese Jahreszeit einen neuen Rekordwert erreicht hatten. „Es ist furchtbar, das tut uns richtig weh“, kommentierte Energieminister Tawfiq e-Elahi Chowdhuri. Eine Alternative sieht er nicht. Experten erwarten, dass der LNG-Bedarf in Bangladesch sich von derzeit vier Millionen Tonnen im Jahr bis 2023 verdoppeln wird.

US-Industrie fordert, LNG-Exporte aus Amerika zu drosseln Shell begründet seine Warnung vor einer Versorgungslücke in einigen Jahren damit, dass auf der Produktionsseite weniger neue Kapazitäten in den Markt kommen als angenommen. Corona hat mit seinen Lockdowns zu zahlreichen Verzögerungen geführt, die eine Verknappung auf der Angebotsseite zur Folge haben können. So wurden im Jahr 2020 neue Kapazitäten im Umfang von drei Millionen Tonnen in Betrieb genommen. Erwartet worden waren aber 60 Millionen Tonnen.
Schon jetzt buhlen China, Japan und Co. um die auf dem Weltmarkt verfügbaren LNG-Kapazitäten. „Da Asien derzeit eine besonders hohe Nachfrage hat und einen höheren Gaspreis zahlt, wird LNG dorthin geliefert und in geringerer Menge nach Europa“, mutmaßt die VNG. Andere Gaskonzerne bestätigen das. Während LNG-Lieferungen in die EU im ersten Halbjahr 2021 zurückgingen, steigen Importe nach Asien teilweise zweistellig.


Besonders die USA schippern Flüssigerdgas massenweise Richtung Asien. Sie sind die Nummer eins im LNG-Export – und darin in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Der Export von Flüssigerdgas ist laut der U.S. Energy Information Agency (EIA) seit 2016 von nahezu null auf zuletzt zehn Milliarden Kubikfuß (283 Millionen Kubikmeter) pro Tag im ersten Halbjahr 2021 gestiegen. Und die EIA rechnet damit, dass die Nachfrage auch innerhalb der USA weiter steigt und das Niveau von vor der Pandemie noch übertreffen wird.


Eigentlich gibt es das durch die umstrittene Fracking-Technologie geförderte Schiefergas in Nordamerika auch in großen Mengen. Ihre eigene Nachfrage können die Vereinigten Staaten selbst decken, daher hält sich der Anstieg der Gaspreise (nur ein Verdopplung) dort im Vergleich zu Europa bisher in Grenzen.


Aber der Winter naht, und die Lager füllen sich auch in Amerika nicht schnell genug. Laut „Wall Street Journal“ liegt der Vorrat derzeit sieben Prozent unter dem Fünf-Jahres-Durchschnitt. Kein Wunder also, dass sich die verarbeitende Industrie Sorgen macht.


Die hat bereits gefordert, die LNG-Exporte aus Amerika zu drosseln. In einem Brief an die Energieministerin Jennifer Granholm schrieb der Verband der energieverbrauchenden Industrie ‚Industrial Energy Consumers of America‘ (IECA) Mitte September: „Wir fordern Sie auf, sofort nach dem Erdgas-Gesetz zu handeln, um eine Angebotskrise und Preisspitzen für die Verbraucher in diesem Winter zu verhindern, indem Sie die Exportquoten für die Flüssigerdgas-Exporteure senken, damit die US-Lager das Niveau des Fünf-Jahres-Durchschnitts erreichen.“


Ministerin Granholm versicherte jüngst zwar bei einem Besuch in Polen, die USA würden mit den europäischen Partnern eng zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass im Winter genügend Gas zur Verfügung stehe. Doch Energie-Experte Rabe weist darauf hin, dass die Regierung sich da gar nicht so einig sei. „Granholm will keine Drosselung. Aber der US-Klimabeauftragte John Kerry ist eher pessimistisch, was die Gasexporte angeht.“ Grund für Kerrys Skepsis sei, dass bei der Förderung von Erdgas klimaschädliches Methan freigesetzt werde, erklärt Rabe.
Theoretisch könnten die US-Unternehmen auch noch mehr Gas zutage fördern. „Aber das bedeutet enorme Investitionen, und die werden sie nur tätigen, wenn sie wissen, wohin der Gaspreis in den kommenden Jahren geht“, sagt Rabe. Und das hänge davon ab, ob Asien weiter so viel Hunger auf Erdgas haben wird, und davon, welche Entscheidungen zum Schutz des Klimas die Regierungen weltweit treffen.


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26 Prozent mehr Flüssiggas importierte China im ersten Halbjahr dieses Jahres – verglichen mit dem Vorjahr. Quelle: VNG

Handelsblatt

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