Frankreich macht Druck auf Deutschland, seine Energiepolitik zu überdenken. In einem Brief, den er vor dem EU-Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister am Montag an die europäischen Partner verschickte, fordert Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire eine „tiefgehende Analyse“ des gemeinsamen EU-Energiemarkts. Dahinter steckt unter anderem die Forderung an die nächste Bundesregierung, die Weiterentwicklung der Kernenergie in der EU nicht zu blockieren. „Die Entkopplung von Strompreisen und tatsächlichen Produktionskosten ist vor allem in Frankreich schwer zu verstehen“, heißt es in dem Brief, der dem Handelsblatt vorliegt.
Paris misstraut den deutschen Energieplänen
Frankreich wettert gegen den deutschen Atomausstieg und Nord Stream 2. In der EU-Kommission wächst die Sorge, dass die steigenden Energiepreise den europäischen Green Deal gefährden.
Der Brief, den Paris vor dem EU-Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister am Montag und Dienstag an die europäischen Partner verschickte, darf durchaus als robuste Anregung für die deutschen Koalitionsverhandlungen verstanden werden: Es geht um die steigenden Gas- und Strompreise, den Umgang mit der Atomkraft, die Abhängigkeit von Russland und die energiepolitische Souveränität der Europäischen Union.
Frankreich erwähnt Deutschland nicht direkt. Doch die Forderungen von Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und Umweltministerin Barbara Pompili nach einer „tiefgehenden Analyse“ des gemeinsamen EU-Energiemarkts sind eine klare Ansage an die künftige Bundesregierung.
Paris fürchtet, dass die teure Energieversorgung kein vorübergehendes Phänomen ist. Das liegt demnach an der wachsenden Abhängigkeit von Gaskraftwerken und den steigenden CO2 – Preisen für fossile Energieträger im Kampf gegen den Klimawandel.
„Die Entkopplung von Strompreisen und tatsächlichen Produktionskosten ist vor allem in Frankreich schwer zu verstehen, wo die Stromproduktion wegen des vorherrschenden Anteils von Atomenergie und des Anstiegs an erneuerbaren Kapazitäten weitgehend dekarbonisiert ist“, heißt es in dem Brief von Le Maire und Pompili, der dem Handelsblatt vorliegt.
Die Aussage zwischen den Zeilen: Ohne die Einbindung in den Energie-Binnenmarkt der EU könnte Frankreich seine Wirtschaft und Bevölkerung günstiger mit Energie versorgen.
Das französische Werben für die Kernkraft ist nicht überraschend, dahinter stehen immer auch Geschäftsinteressen der heimischen Energiewirtschaft. Außerdem wird im April 2022 gewählt, Schlagzeilen über explodierende Energiepreise kann Präsident Emmanuel Macron nicht gebrauchen. Seine Regierung hat bereits einen „Energiescheck“ in Höhe von 100 Euro für Haushalte mit niedrigem Einkommen angekündigt, außerdem sollen die Tarife für Strom und Gas über den Winter gedeckelt werden.
Paris treiben allerdings auch strategische Fragen um. Für den deutschen Ausstieg aus der Atomkraft bis 2022 haben die Franzosen ebenso wenig Verständnis wie für Gas-Deals mit Moskau. Der Preisschock befeuert die französische Kritik am deutsch-russischen Pipelineprojekt Nord Stream 2: „Wir haben nicht über Jahrzehnte die Energieunabhängigkeit unseres Landes um die Atomkraft gebaut, um nun in der Hand von Wladimir Putin zu sein“, sagte Le Maire bei einer Veranstaltung am Donnerstag.
Der französische Brief an Euro-Gruppen-Chef Paschal Donohoe enthält die Forderung, dass die Kommission in Brüssel auch „die Entwicklung von Nuklearenergie ermöglicht“. Deutschland und Frankreich ringen derzeit darum, ob die Kernkraft in die geplanten grünen Investitionsregeln der EU aufgenommen wird.
Vor der Bundestagswahl war in französischen Regierungskreisen die Sorge zu vernehmen, dass eine neue Bundesregierung mit Beteiligung der Grünen die französischen Pläne zur Aufnahme der Atomenergie in das Regelwerk namens Taxonomie endgültig durchkreuzen könnte. Wirtschaftsminister Le Maire und Umweltministerin Pompili schlossen ihr Schreiben mit dem Appell, dass „die schnelle Einbeziehung der Atomenergie in den europäische Taxonomie-Rahmen und die Regulierung für Staatshilfen absolut notwendig“ sei.
Fundamentalkritik an der deutschen Energiepolitik
Der Brief lässt sich damit als Fundamentalkritik an der deutschen Energiepolitik verstehen. Aus französischer Sicht ist der Ausstieg aus der Kernenergie ein strategischer Fehler, der Europa in eine prekäre Abhängigkeit von Russland geführt hat. Die Franzosen fordern eine Kurskorrektur: „Es ist von entscheidender Bedeutung, andere Energiequellen zu erschließen und die europäische Abhängigkeit von Gas exportierenden Ländern so schnell wie möglich zu verringern“, mahnen Le Maire und Pompili.
In ganz Europa versuchen Regierungen derzeit, die Kostenspirale mit Subventionen und anderen Markteingriffen abzufedern. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten wollen das Thema bei einem Gipfel am 21. und 22. Oktober besprechen.
Die EU-Kommission will am kommenden Dienstag einen Maßnahmenkatalog vorstellen. Die sogenannte Energie-Toolbox soll Vorschläge enthalten, wie die EU-Mitgliedstaaten gegen die Preissprünge am Energiemarkt vorgehen können, ohne ihre eigenen Klimaziele zu konterkarieren. Energie-Kommissarin Kadri Simson hat bereits zu erkennen gegeben, dass neben Hilfszahlungen für Niedrigverdiener auch eine befristete Senkung der Mehrwehrsteuer in Betracht komme.
In der EU-Kommission wächst die Sorge, dass der Preisschock den European Green Deal gefährdet – das Herzstück der politischen Agenda von Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Ziel ist es, die Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu verringern, gemessen an dem Stand von 1990. Doch der Widerstand wächst.
Widerstand gegen Klimaschutzprogramme wächst
Die polnische Regierung verlangt bereits, die „soziale Akzeptanz“ der Klimaschutzprogramme stärker zu berücksichtigen. Unter anderem sieht das Klimapaket der Kommission „Fit for 55“ vor, dass der CO2 – Ausstoß von Autos und Gebäuden künftig dem Emissionshandel unterworfen wird. Das Ergebnis wären steigende Heiz- und Spritpreise, sprich stärkere Anreize, auf klimaschonende Alternativen auszuweichen.
Genau das ist aus Sicht mehrerer EU-Regierungen politisch allerdings nicht vermittelbar. Polen hält ebenso wenig von der Ausweitung des EU-Emissionshandels wie Frankreich, das zum Jahreswechsel die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Innerhalb des europäischen Rats könne die EU-Kommission bisher nur auf die Unterstützung von Deutschland und Dänemark zählen, berichten Diplomaten.
Sollte die Ausweitung des Emissionshandels auf Gebäude und Verkehr am Widerstand der Mitgliedstaaten scheitern, wäre die Statik des europäischen Klimaschutzprogramms insgesamt gefährdet. Denn der EU würden Milliardeneinnahmen fehlen, die bisher für einen Sozialfonds vorgesehen sind. Dieser soll Anpassungskosten für sozial schwächere Haushalte, kleine Unternehmen und Autofahrer verringern und gilt in Brüssel als Schlüssel zur Verabschiedung des Green Deal.
ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
Wir haben nicht über Jahrzehnte die Energieunabhängigkeit unseres Landes um die Atomkraft gebaut, um nun in der Hand von Wladimir Putin zu sein. Bruno Le Maire Französischer Wirtschaftsminister
Handelsblatt