Russland – kein Feindbild für einen kalten Gaskrieg

14. Oktober 2021


Die gestiegenen Preise sind vor allem auf den Energiehunger in Asien zurückzuführen, analysiert Gerhard Schröder.

Die Kosten für Energie ziehen derzeit kräftig an. Ein Verbraucherportal hat errechnet, dass der Erdgaspreis für die Endkunden in Deutschland gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent gestiegen ist. Das ist aber noch nichts im Vergleich zu den Kosten für Heizöl (plus 53 Prozent) oder für Diesel und Benzin (plus 26 Prozent). In anderen europäischen Staaten ist die Lage ähnlich. In Großbritannien zeigt sich sogar ein dramatischeres Bild – dort haben Faktoren, die mit dem Brexit zu tun haben, eine zusätzliche Wirkung.


Auch wenn der Erdgaspreis im Vergleich zu anderen Energieträgern eher moderat gestiegen ist, hat er eine politische Diskussion ausgelöst. Der Schuldige für den Preisanstieg ist für manche Medien, aber auch für einige im politischen Bereich schnell gefunden: der russische Präsident Wladimir Putin. Er drehe den Gashahn zu, daher müssten wir Europäer einen kalten Winter fürchten. Dass dies mit der Realität nichts zu tun hat, scheint nicht zu interessieren.
Wer seriös recherchiert, wird feststellen: Die Gründe für den Preisanstieg sind auf dem internationalen Gasmarkt zu finden – gestiegene Nachfrage, globale Marktentwicklungen und die Wetterlage. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Nachfrage nach Gas in den sechs größten europäischen Märkten – Deutschland, Frankreich, Niederlande, Italien, Spanien, Vereinigtes Königreich – im ersten Halbjahr 2021 um zwölf Prozent.


Ausschlaggebend war die Konjunktur, die nach den Covid-19-bedingten Betriebsunterbrechungen in der Industrie im Frühjahr und Sommer 2020 wieder angesprungen ist. Parallel dazu wurden die Gasspeicher im vergangenen Winter wegen der kälteren Temperaturen, die bis in den Frühling andauerten, länger als gewöhnlich beansprucht. Daher begann die Wiedereinspeisung in die Gasspeicher erst Ende April und damit knapp einen Monat später als im Durchschnitt der Vorjahre. Diese Faktoren führen zu höheren Preisen und zu einer stärkeren Nachfrage in den Sommermonaten.


Die Frage ist: Wo soll in dieser Situation bezahlbares Gas für Europa herkommen? Einen großen Teil des Gases beziehen die Europäische Union und Deutschland über ein ausdifferenziertes Pipelinenetz, insbesondere aus Russland und Norwegen. Hinzu kommt die Option, Flüssigerdgas (LNG) zu importieren. Aber was ist nun mit dem sogenannten „Freedom-Gas“, das uns die USA immer als preisgünstige und im Überfluss vorhandene Alternative angepriesen haben?
Die Antwort ist einfach: Es kommt nicht. Die LNG-Tanker fahren nach Asien. Vor allem China kauft weiterhin zu hohen Preisen Pipelinegas und LNG, sowohl für den Verbrauch als auch für die Speicherung. Zwischen Januar und August 2021 importierte China über 22 Prozent mehr als im Vorjahr, während die LNG-Importe der EU und Großbritanniens um 17 Prozent zurückgingen.


Interessant ist, dass die USA ihre LNG-Lieferungen nach China in diesem Zeitraum vervierfacht haben. Auf der einen Seite fordern die USA, dass Europa seinen Handel mit China einschränken soll, aber auf der anderen Seite nutzen sie die Möglichkeit, um Erdgas nicht nach Europa, sondern lukrativ nach China zu verkaufen. Die wirtschaftliche Erholung Asiens und die damit einhergehende gestiegene Nachfrage sind also die Schlüsselfaktoren für die hohen Gaspreise auf dem Weltmarkt.


Auch wenn die Schlagzeilen über eine angebliche Gaskrise derzeit dramatisch klingen, braucht sich niemand zu sorgen, denn der Bedarf der Verbraucher wird weiterhin bedient. Trotz der verspätet begonnenen Befüllung der Gasspeicher in Europa verläuft diese seit Anfang Mai in vergleichbar hoher Geschwindigkeit wie in den Vorjahren. Deutschland verfügt mit 23 Milliarden Kubikmetern in 47 Untergrundspeichern über die größten Speicherkapazitäten in der Europäischen Union. Aktuell sind die Speicher in Deutschland zu 68 Prozent gefüllt, in den meisten EU-Ländern belaufen sich die Speicherfüllstände sogar auf rund 80 Prozent.

Wie stellt sich die Situation nun bei unserem größten Erdgaslieferanten Russland dar? Die Gasproduktion ist dort in den ersten acht Monaten des Jahres gestiegen. Allerdings musste auch Russland seine heimischen Speicher zunächst auffüllen, denn dort wurde im vergangenen Winter ein Großteil des gespeicherten Gases aufgebraucht. Dennoch nähern sich die russischen Gasexporte historischen Rekordwerten. Allein die Exporte nach Deutschland stiegen 2021 bisher um rund 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr.


Auch das Bundeswirtschaftsministerium bestätigte jüngst, dass es keine Engpasssituation gibt und alle Verträge bedient werden. Seit mehr als 50 Jahren ist Russland beziehungsweise die damalige Sowjetunion ein verlässlicher Lieferant – das galt auch für die Zeit des real existierenden Kalten Krieges. Russland fällt also als Feindbild für einen kalten Gaskrieg aus.


Mit welcher Situation werden wir in den nächsten Monaten rechnen müssen? Ich gehe davon aus, dass sich die Situation auf dem Gasmarkt allmählich erholen wird. Die weiterhin hohen Gasimporte aus Russland und das Ende der sommerlichen Wartungsperiode der norwegischen Nordsee-Gasproduktion werden die Gasflüsse nach Europa stabilisieren. Die aktuelle Situation macht jedoch deutlich, dass sich der Handel mit Gas mittlerweile immer stärker globalisiert.

Europa steht hier in einer scharfen Konkurrenz zu anderen Weltregionen, deren Energiehunger ungestillt ist. Auch wenn wir unsere ambitionierten Klimaschutzziele erreichen wollen, brauchen wir für die Übergangszeit – die voraussichtlich drei Jahrzehnte dauern wird – Erdgas als den fossilen Energieträger, der das Klima am besten schont.
Und was bedeutet diese Situation für die fertiggestellte, aber noch nicht im Betrieb befindliche Pipeline Nord Stream 2, die russisches Erdgas nach Europa liefern soll? Bekanntermaßen bin ich der Verwaltungsratsvorsitzende dieser Pipelinegesellschaft. LNG wird oft als flexible und zuverlässige Versorgungsquelle dargestellt. Aber in Zeiten wie diesen sehen wir wieder einmal, dass die LNG-Schiffe dorthin fahren, wo die höchsten Preise gezahlt werden.
Aus Sicht der Exporteure ist das verständlich, aber eine verlässliche Versorgungssicherheit auf der Basis von LNG garantiert das nicht. Das Rückgrat der europäischen Versorgungssicherheit sind und bleiben die Pipelines.
Wir werden auch in Zukunft Gas brauchen. Als Partner für die erneuerbaren Energien – zum Beispiel in der Stromproduktion – können Gaskraftwerke Schwankungen ausgleichen. Dabei werden rund 65 Prozent weniger Emissionen produziert, wenn der Strom in Gas- statt Kohlekraftwerken produziert wird. Daher ist jede zusätzliche Pipeline gut für den europäischen Markt – das gilt nicht nur für Nord Stream 2, sondern auch für andere Projekte, die derzeit geplant oder gebaut werden.


Je mehr Bezugsquellen und Lieferwege wir haben, umso besser ist es für die Europäische Union, aber vor allem für den Endkunden. Denn je besser das Angebot ist, umso niedriger sind die Preise.


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Je mehr Bezugsquellen und Lieferwege wir haben, umso besser ist es für die EU, aber vor allem für den Endkunden.
Vor allem China kauft weiterhin zu hohen Preisen Pipelinegas und LNG, sowohl für den Verbrauch als auch für die Speicherung.
Der Autor Gerhard Schröder, von 1998 bis 2005 der siebte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, ist Verwaltungsratsvorsitzender der europäisch-russischen Gaspipeline-Gesellschaften Nord Stream und Nord Stream 2 sowie des russischen Mineralölunternehmens Rosneft.

Handelsblatt