Deutsche Industrie fordert mehr Tempo bei Klimaschutz

21. Oktober 2021, Berlin

Die deutsche Industrie mit Millionen von Beschäftigten hat die nächste Bundesregierung zu schnellen grundlegenden Weichenstellungen im Klimaschutz aufgefordert. Sonst würden Klimaziele 2030 verfehlt, sagte Industriepräsident Siegfried Russwurm am Donnerstag in Berlin. „Uns läuft die Zeit davon.“

Der Umbau zur Klimaneutralität bis 2045 sei eine gesamtgesellschaftliche „Mammutaufgabe“ historischen Ausmaßes und erfordere schon bis zum Jahr 2030 Mehrinvestitionen von 860 Mrd. Euro.

„Das klimaneutrale Industrieland gibt es nicht zum Nulltarif“, sagte Russwurm – weder für Unternehmen noch für private Haushalte. Für Investitionen bräuchten Firmen aber Sicherheit, dass sich diese lohnten.

Genau das sei aber derzeit nicht der Fall, machte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) deutlich – und warnte: „Die aktuelle Planlosigkeit und Unsicherheit der deutschen Klimapolitik drohen zur Gefahr für unseren Standort zu werden, vom Auseinanderdriften der Gesellschaft bis zu einer dauerhaften Schwächung der Industrie.“

Der BDI stellte eine gemeinsame Studie mit der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) vor. Der kurzfristige Handlungsdruck sei immens, heißt es darin. Stand jetzt würden wichtige Klima-Etappenziele 2030 verfehlt. In der nächsten Legislaturperiode – also bis zum Jahr 2025 – müssten zentrale Weichenstellungen erfolgen, damit der Umbau Fahrt aufnehmen könne. Scheitere Deutschland, drohten große Verwerfungen, so die Botschaft. Die Industrie würde ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren, der Wohlstand sei in Gefahr und damit viele Jobs.

Falls Deutschland bei der Transformation scheiterte, würde das auch andere Länder abschrecken, sagte Russwurm. Deutschland wolle aber Vorbild bleiben beim Klimaschutz – und neue Technologien „Made in Germany“ weltweit exportieren. Deswegen sei der Umbau bei richtiger Umsetzung eine Chance für die Modernisierung des Lands.

Der Appell kam zum Start der Koalitionsverhandlungen von SPD, FDP und Grünen. Die drei Parteien wollen die Anstrengungen beim Klimaschutz deutlich erhöhen.

Ein Kernergebnis der Industrie-Studie lautet: Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist überaus ehrgeizig – aber technologisch im Prinzip machbar. Deutschland habe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die kommende Bundesregierung müsse schnell Impulse für einen „Investitionsturbo“ setzen – vor allem für einen massiven Aus- und Neubau von Strom-, Wasserstoff- und Ladeinfrastrukturen, für die Erzeugung erneuerbaren Stromes und Wärme, für Elektromobilität und Schienennetze. Um das zu erreichen, müssten Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich gestrafft werden. „Geld alleine schießt keine Tore“, sagte Russwurm.

Die Dimension des Umbaus ist laut Studie gewaltig. Treibhausgasneutralität bedeute einen vollständigen Verzicht auf fossile Brennstoffe – also Kohle, Öl und Gas. Das wiederum erfordere einen fundamentalen Umbau des Gebäude- und Fahrzeugbestands, großer Teile der produzierenden Wirtschaft sowie des Energiesystems. „Jeder fossile Energieerzeuger, fast jede industrielle Anlage, fast jedes motorisierte Fahrzeug und fast jeder Heizkessel muss bis dahin ersetzt werden – in den meisten Fällen durch eine andere Technologie.“

Konkret bedeutet das: Aufbau einer riesigen Wasserstoffwirtschaft, mit internationalem Anschluss, eine „radikale“ Beschleunigung“ des Stromnetzausbaus, massiv mehr Windräder und Solaranlagen, viel mehr Elektroautos und eine starke Verlagerung von Verkehren von der Straße auf die Schiene.

Die jetzt nötigen Maßnahmen rückten sehr nah an die Lebensrealität fast jedes einzelnen Bürgers, heißt es in der Studie: „Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, müssen in den kommenden neun Jahren Millionen einzelner Entscheidungsträger andere Entscheidungen treffen als sie es bisher getan haben.“

Die Umsetzung der Klimawende sei nicht ohne Mehrbelastungen für private Haushalte zu realisieren. Ein wesentlicher Anteil der Emissionen werde von Privatpersonen verursacht, beispielsweise im Straßenverkehr oder im Gebäudesektor. Der Staat müsse Verteuerungen einführen, um die Nutzung fossiler Brennstoffe unattraktiver zu machen.

Haushalte aber seien unterschiedlich betroffen. Durch Fördermaßnahmen würden diejenigen profitieren, die ein Elektroauto kaufen, ihr Haus sanieren und auf eine Wärmepumpe umstellen. Hart treffen könnte es aber diejenigen, die zur Miete in einem unsanierten Gebäude wohnen, häufig längere Strecken mit einem Verbrenner fahren und sich kein neues Elektroauto leisten könnten.

Deswegen müsse es einen sozialen Ausgleich geben. Genannt werden in der Studie als mögliche Instrumente eine Abschaffung der EEG-Umlage (Erneuerbare-Energien-Gesetz-Umlage, Anm.) zur Förderung des Ökostroms oder die Ausschüttung eines jährlichen Klimageldes in Höhe von 85 Euro pro Kopf an jeden Bürger. Alleine die staatliche Unterstützung der Transformation und der Ausgleich für besonders belastete private Haushalte und Unternehmen koste bis 2030 bis zu 280 Milliarden Euro – nach Abzug der Einnahmen aus einer höheren CO2-Bepreisung.

APA/dpa