Linde für AKW-Comeback

9. November 2021

Der Chef des Gaseherstellers und sein Nachfolger sind überzeugt: Die Welt braucht Atomkraft. Für den Dax-Konzern haben sie große Wasserstoff-Pläne.

Angesichts des steigenden Strombedarfs und der immer höheren Energiepreise wird in der Wirtschaft der Ruf nach einem Comeback der Kernkraft lauter. Steve Angel, der Chef des Linde-Konzerns, und sein designierter Nachfolger Sanjiv Lamba sehen den deutschen Atomausstieg als Fehler. „Wir werden einen Energiemix brauchen. Dazu gehört auch Atomkraft“, sagte Lamba im Gespräch mit dem Handelsblatt. Und Angel ergänzte: „Bill Gates hat zu 100 Prozent recht.“


Der Microsoft-Gründer hatte jüngst im Handelsblatt dafür plädiert, im Kampf gegen den Klimawandel auch auf Kernkraft zu setzen. Während in Deutschland die letzten Atomkraftwerke Ende 2022 vom Netz gehen, halten andere Länder wie Frankreich, Großbritannien oder die USA an der Kernenergie fest oder bauen sie sogar aus. Viele Hoffnungen konzentrieren sich dabei auf sogenannte Minireaktoren. Experten rechnen allerdings nicht damit, dass die Technologie in den kommenden 15 Jahren für eine kommerzielle Anwendung taugt.


Die beiden Linde-Manager forderten zudem, stärker auf Gas als Brückentechnologie zu setzen. Lamba, der am 1. März den CEO-Posten übernimmt, sagte mit Blick auf den CO2 – Ausstoß: „Es würde für die Welt absolut Sinn ergeben, alle Kohlekraftwerke sofort zu schließen und durch Gaskraftwerke zu ersetzen.“


Bei Lindes Wachstumsplänen spielt der grüne Wasserstoff eine zentrale Rolle. Die Sparte Clean Energy könne eines Tages mehr als die Hälfte des Konzernumsatzes beisteuern, sagte Lamba. Aktuell sind es unter zehn Prozent. Kirsten Ludowig, Axel Höpner, Kathrin Witsch Linde für AKW-Comeback


Nur wenige Unternehmen sind in der Industrie weltweit so eng vernetzt wie Linde. Industriegase werden in der Produktion bei sehr vielen Prozessen eingesetzt, zum Beispiel in der Chemieindustrie und bei den Autobauern. Schon deshalb hat es Gewicht, wenn die Führungsspitze des zweitwertvollsten Dax-Konzerns ein Plädoyer für die Kernenergie und für Gaskraftwerke abgibt. In der Öffentlichkeit müsse derzeit alles grün sein, sagte Linde-CEO Steve Angel dem Handelsblatt. Doch wenn er mit Industriemanagern spreche, sei allen klar, dass man auch Gas brauche.
Auch beim Ruf nach Kernenergie stehen die Linde-Manager nicht allein da. Es gibt eine Reihe von Managern, die glauben, dass der wachsende Strombedarf in den kommenden Jahren nicht allein durch erneuerbare Energien gedeckt werden wird können.


So sprach sich Ex-BASF-Chef Jürgen Hambrecht vor wenigen Tagen für eine Laufzeitverlängerung der sechs verbliebenen deutschen Atomkraftwerke aus. Wenn Deutschland wie geplant Ende des kommenden Jahre aus der Kernenergie aussteige und früher als 2038 aus der Kohleverstromung, komme die Energieversorgung in Deutschland „schnell an Grenzen“, sagte er in einem Interview mit der Onlineausgabe des Magazins „Cicero“. Man brauche „eine Rückfalloption, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint“.
Auch VW-Chef Herbert Diess hatte bereits vor zwei Jahren gesagt: „Um das Klima zu schützen, sollte Deutschland zuerst aus der Kohleverstromung aussteigen und dann erst aus der Atomenergie.“ Ähnlich sah das Linde-Verwaltungsratschef Wolfgang Reitzle. Er plädierte in der Vergangenheit dafür, die Kernenergie solle Bestandteil der deutschen Energiepolitik bleiben.


Doch in der Wirtschaft gibt es auch viele skeptische Stimmen. Die Atomkraftkonzerne wie RWE, Eon und Co. selbst haben solchen Gedankenspielen aber immer wieder eine Absage erteilt.


Auch bei Siemens Energy rechnet man nicht mit einem AKW-Comeback in Deutschland. „De Atomausstieg ist in vollem Gange, das Thema ist politisch entschieden“, sagte Vorstand Jochen Eickholt. Man solle sich besser darauf konzentrieren, „den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben und uns auch mit Transferlösungen wie Gas zu beschäftigen“. Axel Höpner, Kathrin Witsch

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