Um ihre CO2-Bilanz zu senken, setzen einige Staaten weiter auf Kernenergie. Die Probleme bleiben aber.
Atomkraft? Nein danke!“ Das ist seit den 1970er-Jahren in Österreich Common Sense. Jede Schülerin der achten Schulstufe lernt im Physikunterricht, dass das AKW Zwentendorf quasi umsonst gebaut und nie aktiviert wurde. Österreich kommt dank Wasserkraft ohne Atomstrom aus und seit 1969 ist auch niemand mehr auf die Idee gekommen, ein Atomkraftwerk zu bauen. Und auch in Deutschland soll im kommenden Jahr der letzte Atomreaktor vom Netz gehen. Nach der Havarie in Fukushima hat das Land 2011 den Atomausstieg beschlossen.
In zahlreichen anderen EU-Ländern sieht es aber anders aus. Rund um die EU-Klimaziele – die Staatengemeinschaft will ab 2050 CO2-neutral wirtschaften – ist eine hitzige Diskussion darüber entstanden, ob und wie geeignet die Atomkraft ist, den Treibhausgasausstoß zu senken. Um das 1,5-Grad-Ziel und den CO2-Reduktionspfad zu erreichen, setzten deshalb manche auf Kernenergie als Brückentechnologie. Atomstrom als grüne, saubere Energiequelle neben Wasser, Sonne und Wind also?
14 EU-Staaten betreiben derzeit (noch) Atomkraftwerke. Einige von ihnen – allen voran Frankreich, aber auch Polen, Ungarn, Finnland oder Schweden – setzten sich nun auf EU-Ebene dafür ein, dass Atomkraft im Zuge der EU-Klimastrategie „Fit for 55“ als grün angerechnet werden kann und Atomstrom gefördert werden soll. Frankreich deckt 70 Prozent seines Strombedarfs aus Atomkraft. Eigentlich sollte dieser Wert bis 2025 auf 50 sinken, aber erst vor kurzem hat Präsident Emmanuel Macron das auf 2035 verschoben.
Weniger CO2
Das „Grüne“ am Atomstrom ist der Energiegewinnungsprozess. In einem Kernkraftwerk finden eben keine chemischen Verbrennungsreaktionen statt, sondern die Energie wird über kernphysikalische Kernspaltung gewonnen. Daran sind Atome der Elemente Uranium und manchmal Plutonium beteiligt, aber nicht Kohlenstoff oder Sauerstoff, weswegen kein Kohlendioxid (CO2) entstehen kann. So weit so grün.
„Im Gesamtzyklus sind die CO2-Emissionen aber sehr wohl höher“, sagt Günter Pauritsch von der Austrian Energy Agency (AEA) im Gespräch mit der „Wiener Zeitung“. Im Rahmen der Studie „Energiebilanz der Nuklearindustrie“, die von der AEA und dem Österreichischen Ökologie-Institut erstellt wurde, kommen die Forscher zum Schluss, dass Nuklearenergie weder klimafreundlich noch wirtschaftlich ist. Zwar entstehe bei der Kernspaltung kein CO2, sehr wohl aber beim Abbau und der Verarbeitung von Uran. Auch beim Beton-intensiven Kraftwerksbau und bei der Atommülllagerung fällt CO2 an. „Die CO2-Vermeidungskosten von Kernenergie sind zudem höher als die jeder anderen möglichen Technologie mit Ausnahme traditioneller Kohlekraftwerke.“ Das sind die tatsächlichen Kosten, die anfallen, um eine Tonne CO2 einzusparen.
Weltweit 414 Reaktoren
Laut dem „World Nuclear Industry Status Report“ werden weltweit derzeit 415 Kernkraftreaktoren in 33 Ländern betrieben. Die meisten von ihnen wurden in den 70er- und 80er-Jahren gebaut und sind durchschnittlich 31 Jahre alt. 53 neue Reaktoren sind in Bau, 93 Bauprojekte wurden eingestellt, meist wegen zu hoher Kosten. Atomstrom deckt derzeit 10 Prozent des weltweiten Strombedarfs ab. 18 der 53 Neubauprojekte sind in China. Das Land hat im Vorjahr Frankreich als zweitgrößte Atommacht der Welt abgelöst. Dort werden derzeit auch kleinere, effizientere Reaktoren mit flüssigem Thorim-Salz getestet statt mit Uran-Brennstäben.
In Europa werden im nordfranzösischen Flamanville, im britischen Hinkley Point und im finnischen Hanhikivi neue Reaktoren gebaut. In Ungarn will die Regierung nahe der Stadt Paks an der Donau ein AKW bauen und Polen möchte sein vor der Wende begonnenes, aber dann eingestelltes AKW-Vorhaben wiederbeleben. Sie alle, und das ist der Vorwurf Österreichs, sollen oder werden bereits mit öffentlichen Mitteln gefördert. Österreich hatte gegen die staatlichen Förderungen für Hinkley Point C das damalige EU-Mitglied Großbritannien vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geklagt. Im Vorjahr hat der EuGH die Beschwerde aber abgewiesen und geurteilt, dass Atomstrom sehr wohl staatlich gefördert werden darf.
„Kein einziges AKW kommt ohne Förderungen aus. Das ist kein wirtschaftlich tragfähiges Geschäftsmodell“, sagt Pauritsch. Oft fallen die Baukosten deutlich höher aus als veranschlagt, und der Bau verzögert sich. Die Fertigstellung des „Europäischen Druckwasserreaktors“ in Flamanville hat sich zum Beispiel um mehr als zehn Jahre verzögert, die Kosten haben sich verdreifacht. Nächstes Jahr soll er dann ans Netz gehen.
Unberechenbares Risiko
Die Reaktorunfälle in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 haben gezeigt, wie gefährlich ein Atomreaktor im Krisenfall werden kann. Je nach Berechnungsart hat Tschernobyl bis zu einer Million Menschen das Leben gekostet. Und auch das Atommüll-Problem ist noch ungelöst. Ein Endlager muss so gebaut und ummantelt sein, dass zumindest 100.000 Jahre keine Strahlung entweicht, erklärt Pauritsch. Die Halbwertszeit von Uran beträgt zum Beispiel 704 Millionen Jahre.
Trotzdem nehmen viele EU-Länder das Atom-Risiko in Kauf und sind gerade dabei, bestehende Reaktor-Laufzeiten zu verlängern. Zum einen, weil der Ausbau von Wind-, Wasser- und Solarenergie in der EU deutlich langsamer vonstattengeht, als es der CO2-Reduktionspfad vorsieht. Zum anderen sind die Ausbaubedingungen vor allem bei der Wasserkraft nicht überall so günstig, wie sie es in Österreich waren, weil die Wasserressourcen etwa knapper sind. Hierzulande sind 81 Prozent des Stroms grün, also aus erneuerbaren Quellen, wobei drei Viertel aus Wasserkraft stammen.
Weltweit machen erneuerbare Energien und Wasserkraft laut der Internationalen Energiebehörde gerade einmal fünf Prozent der globalen Energieversorgung aus. Mit dem Umbau des Verkehrssektors in Richtung Elektromobilität wird der Strombedarf aber steigen.
von Marina Delcheva
Wiener Zeitung