DIE STROM-REBELLEN

16. November 2021

Das neue Ökostrom-Ausbaugesetz hat auch den kollektiven Einkauf von Strom auf neue Beine gestellt. Der dank großzügiger Förderungen anrollende Boom der ERNEUEBAREN ENERGIEGEMEINSCHAFTEN soll den bisherigen Strommarkt umkrempeln.

Wenn Sie beim Öffnen der Post derzeit einen leichten elektrischen Schlag verspüren, könnte es an den Vorschreibungen für die Stromtarife im kommenden Jahr liegen. Angesichts seit Monaten rasant steigender Preise im Energiegroßhandel sind für Strom und Gas „signifikante Anpassungen nach oben“ zu erwarten, kalkuliert Reinhold Baudisch vom Preisvergleichsportal durchblicker.at. Für Durchschnittshaushalte um bis zu 500 Euro pro Jahr.
Wenn nicht, gehören Sie vielleicht zu einer kleinen, aber ebenso rasant wachsende Gruppe an Stromkunden, die sich an einer sogenannten Erneuerbaren Energiegemeinschaft (EEG) beteiligt haben. Mit dem neuen Gesetz zum Ausbau erneuerbarer Energien (EAG) wurden nämlich auch der gemeinschaftliche Ein-und Verkauf von Strom aus Wind-und Solarkraftwerken neu definiert. Die dabei verankerten Förderungen lassen deutliche Preisvorteile erwarten.
Setzt sich das Modell der Selbstorganisation durch, könnte es den Markt revolutionieren, schätzt Ökostrompionier Peter Molnar, Gründer der Energiegemeinschaft OurPower in Oberösterreich: „Hier rücken aktive Bürger in den Mittelpunkt, um Energiewende und Klimaschutz zu beschleunigen. Damit haben zwei mächtige Repräsentanten des Stromsystems ein veritables Problem: die eingesessenen Lieferanten und die Netzbetreiber.“


STROM AB KRAFTWERK. Tatsächlich basiert das Gesetz auf EU-Vorgaben zur Bürgerbeteiligung an der Energiewende und schaltet für EEGs den Zwischenhandel mit Strom aus. Teilnehmer kaufen den Bedarf direkt bei Betreibern von Ökostromkraftwerken. Dafür gibt es massive Gebühren-und Abgabenvorteile als Draufgabe, die sonst ein Drittel der Stromrechnung ausmachen. So werden u. a. die Netztarife halbiert, Elektrizitätsabgabe sowie Ökostrom-Förderbeitrag fallen ganz weg mit Einsparungen bis 70 Euro je 1.000 Kilowattstunden (KWh). Je mehr Strom über die EEG eingekauft wird, umso höher der Benefit.


Auch für teilnehmende Kraftwerksbetreiber ist das attraktiv. Sie sind neuerdings dazu verpflichtet, ihren Strom selbst zu vermarkten, und EEGs sind ein Vertriebskanal, der höhere Einnahmen erwarten lässt. Denn ohne Gebühren und Abgaben kann man mehr verlangen, während die Kunden ihren Strom immer noch billiger beziehen und nebenbei die Welt retten können -so zumindest die Theorie.

Eines der Beispiele dafür ist die Our-Power-Energiegemeinschaft, die größte in Österreich. In Windhaag/Freistadt (OÖ) verteilt sie den Strom aus dem Windpark Spörbichl, drei kleinen Wasserkraftwerken und rund 40 Photovoltaikanlagen auf Hausdächern auf 120 Kunden. Sie können sich den Strommix am OurPower-Marktplatz innerhalb der Anlagebetreiber aussuchen, egal, ob vom Nachbarn oder vom Kleinwasserkraftwerk eines Sägewerks. Organisator Molnar: „So wird das Stromgeld der Kunden zum Geldstrom für die Energiewende.“


Reihum schießen ähnliche Projekte aus dem Boden. Die Regulierungsbehörde E-Control verzeichnete in den wenigen Monate seit Vorlage des Gesetzes (Teile davon müssen noch in Brüssel bestätigt werden) fast eine Verdopplung der Projekte. Und jeder möchte vorne dabei sein wie etwa Peter Laupert von der EEG Gänserndorf in Niederösterreich, der nach eigenen Angaben erste Verein nach neuem Gesetz, der bereits ans Netz gegangen ist. Statt 18 Cent wie der lokale Stromanbieter EVN kann er laut Modellrechnung um 12,5 Cent je KWh anbieten: „Manche suchen nach bestimmten Partnern, und stellen komplizierte Berechnungen an. Wir haben eine einfache Website und wollen das möglichst offen und einfach gestalten.“

GEMEINDEN ALS STROMREBELLEN. Immer öfter geht das Interesse von Kommunen aus. Sie wollen den Strombedarf ihrer Bürger abseits herkömmlicher Stromverträge abdecken und überlegen, ob auf ihrem Gebiet Kraftwerke vorhanden sind – oder extra ausgebaut werden können. So etwa in Niederösterreich, wo die Energieund Umweltabteilung des Landes gemeinsam mit dem Landesenergieversorger EVN extra die Tochtergesellschaft Energiezukunft Niederösterreich (EZN) gegründet hat. Sie fungiert als Dienstleister für die Energiegemeinschaften und rechnet mit Preisvorteilen von 50 bis 120 Euro pro Jahr für Haushalte. Geschäftsführer Andreas Rautner: „Wir waren von dem Response aus den Gemeinden überrascht und können die vielen Anfragen kaum bewältigen.“ Rund 200 haben bereits angeklopft, 33 ein konkretes Projekt im Hinterkopf.


Technisch gesehen sind Energiegemeinschaften dabei vorläufig nur Abrechnungsgemeinschaften, weder wird der physikalische Elektronenfluss umgeleitet, noch reagieren Stromproduktion und -verbrauch aufeinander. Daher kommt es auch regelmäßig zu Unterdeckung in der Versorgung oder zu Überschüssen in der Produktion. Dann müssen die traditionellen Stromversorger und Netzbetreiber einspringen wie bisher auch. Damit die Netzstabilität nicht allzu sehr leidet, wurde die Teilnahme auf regionale, stromnetzverbundene Mitglieder begrenzt. In Zukunft ist aber auch die Möglichkeit überregionaler Zusammenschlüsse vorgesehen (Bürger-Energiegemeinschaften).


STANDORTVORTEIL. Was den Boom für klassische Stromlieferanten heikel macht: Auch Großabnehmer wie Unternehmen erkennen zunehmend den Vorteil. Wer mehrere Standorte in einer Region betreibt und eine PV-Anlage am Dach hat, könnte seinen Strom bei stark reduzierten Netzgebühren allen Verbrauchern im Betrieb zugute kommen lassen, Überschüsse werden verkauft.

Daran dachte wohl die W. A. Richter, Metallbau in Wien, 23, als sie gemeinsam mit dem Berater Power Solution die Grätzlenergie gründete, nach Eigenangaben die erste Wiener Energiegenossenschaft. Eine industrielle PV-Anlage am Dach sorgt für den Strom, die Überschüsse gehen an Haushalte in der Umgebung, sagt Organisator Roland Kuras. Es gehe auch um die „Kippmomente der Akzeptanz“ der Energiewende:“Ich bin 100 Prozent sicher, wer Teil eines Projekts ist, hat nichts gegen Windräder oder PV-Kraftwerke. Und wenn das nicht hilft, dienen solche Projekte zumindest dazu, eine breitere Diskussion anzustoßen.“


ENERGIEWIRT STATT LANDWIRT. Diese Standortüberlegungen fallen auch in der Landwirtschaft auf fruchtbaren Boden. So etwa will die RWA, die Dachorganisation der Raiffeisen Lagerhäuser, ihren fossilen Energiehandel (Genol) langfristig durch CO2-neutrale Angebote ersetzen. In der Tochter Solar Solutions wird daher nicht nur der Bau von speziellen agrarischen PV-Anlagen, sondern auch das Fördermodell Energiegemeinschaft getestet, sagt Geschäftsführer Oliver Eisenhöld: „Die Produktion von regionalem Grünstrom und der direkte Verbrauch in der Region werden immer mehr Bedeutung gewinnen. Das Bewusstsein der Bevölkerung für neue, innovative Energiekonzepte steigt deutlich.“


Dafür hat man sich beim EEG-Start-up eFriends eingekauft, das mittels eigenem Hardwaretool die Stromflüsse bei Teilnehmern in Echtzeit messen kann. Damit ist eine exakte Zuordnung zwischen Verbraucher und Einspeiser möglich, während üblicherweise Strommengen nach Durchschnittswerten im Nachhinein berechnet werden. Gründer und Geschäftsführer Matthias Katt ist dementsprechend stolz: „Durch die Integration weiterer Teilnehmer auf unserer eFriends-Plattform wird die erste bilanzübergreifenden Energiegemeinschaft Österreichs Realität und gestaltet im Sinne des EAG die Energiewende entscheidend mit.“


AUF STAND-BY. Freilich hemmt bei den neuen Stromrebellen noch die Angst vor Kriechstrom die volle Kraft voraus. Vor allem, weil so einige Rahmenbedingungen noch nicht ganz passen. So fehlen etwa schlicht Durchführungsbestimungen zum Gesetz wie die Verordnung aus dem zuständigen Klimaministerium über die exakten Vergünstigungen bei den Netztarifen -auch wenn dieses wöchentlich erwartet wird und die ungefähre Richtung vorab kommuniziert wurde. Auch ist vielen Beteiligten noch lange nicht klar, wer von EEGs und ihren subventionierten Stromlieferungen profitieren darf. Auch Kunden außerhalb der EEG? Und was passiert mit Überschussstrom?


Und letztlich hapert es oft noch mit der Abrechnung der aufgeteilten Strommengen unter den Teilnehmern. Wird der Verlauf des Verbrauchs, wie bis auf wenige Ausnahmen üblich ist, nach Durchschnittswerten (sogenannten Lastprofilen) eher geschätzt, ist das ungenau. Würden sie exakt gemessen wie beim erwähnten Start-up eFriends, würde es die Komplexität der Modelle rasch erhöhen und Kostenvorteile womöglich egalisieren. Auch bei eFriends verteuern die Hardwarekosten die Teilnahme deutlich.


Ein Mittelweg wäre der vom Gesetz her für Teilnehmer einer EEG eigentlich vorgeschriebene Einbau sogenannter Smartmeter, mehr oder weniger intelligenter Strommessgeräte, die Verbrauchswerte zumindest in Viertelstunden-Abständen übermitteln können. Das wiederum scheitert vorläufig an den für den Einbau zuständigen Netzbetreibern, die um Jahre hinter den ursprünglichen Plänen hinterherhinken. Teils, weil es keine passenden Geräte gab, teils, weil Sicherheitsbedenken nicht ausgeräumt werden konnten. Obwohl es mittlerweile einen gesetzlichen Anspruch darauf gibt, beträgt der Ausbaugrad für das Jahr 2021 statt wie vorgesehen 80 rund 30 Prozent.
Leicht möglich also, dass sich der erwartete Boom der elektrischen Selbstversorger doch noch eine Weile im stromsparenden Stand-by-Modus befindet.


Warum Netzbetreiber skeptisch sind
KOSTENRECHNUNG. Während Erneuerbare Energiegemeinschaften (EEG) für Konsumenten und Kraftwerksbetreiber aus Kostensicht eine feine Sache sind, haben die Stromnetzbetreiber in Österreich größere Bedenken. Denn die Teilnehmer zahlen weniger für die Benutzung der Stromnetze, benötigen sie aber genauso, teils sogar stärker als herkömmliche Stromkunden. Je mehr dezentrale Ökokraftwerke ans Netz gehen, umso stärker müssten die Verteilnetze ausgebaut werden oder brauchen gar eigene Umspannwerke, was durch die Anschlussgebühren nicht abgedeckt sei, klagt Franz Strempfl, Netzexperte des Branchenverbands Österreichs Energie: „Den Vorwurf, wir bremsen die Entwicklung, weise ich zurück. Wir haben auch nichts gegen eine Demokratisierung der Stromversorgung. Aber man hätte vorher definieren sollen, was wo genau passieren soll. Eine stärkere Dezentralisierung bedeutet einen stärkeren Netzausbau. Da droht Wildwuchs.“


TARIFERHÖHUNG. Darüber hinaus bleiben die Netzbetreiber für die Ausfallsicherung von EEGs zuständig, wenn die eigenen Kraftwerke nicht genug (oder zu viel) Strom liefern. Daher begrenzen manche Netzbetreiber die Anzahl der Kraftwerke, die innerhalb einer EEG abgerechnet werden können, auf ein einziges – ein Graubereich im neuen Gesetz. An einer Erhöhung der Netztarife insgesamt führe kein Weg vorbei, meint Strempfl: „Da sind wir uns mit der Regulierungsbehörde E-Control einig: Die Tarifstruktur muss sich ändern. Die Entwürfe gibt es, etwa die Verteuerungen für das Laden von E-Autos, aber sie werden nicht umgesetzt.“ Immerhin geht es beim Ausbau der Stromnetze für die Energiewende nach Berechnungen des Branchenverbands Österreichs Energie um rund 18 Milliarden Euro, den Löwenanteil von zwölf Milliarden braucht es für den Ausbau der Verteilnetze -auch wegen EEGs. Wenn nun diese ausgerechnet bei Netztarifen begünstigt werden, muss der Betrag über die Mehrbelastung anderer Stromkunden aufgebracht werden. „Wenige profitieren, die Kosten werden sozialisiert“, lautet der Vorwurf.

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