Brüssel macht Erdgas und Atomkraft grün

1. Dezember 2021


Vor Entscheidung. EU-Wirtschaftskommissarin McGuinness will demnächst entscheiden, ob Atom- und Gaskraftwerke als „grün“ und klimaschonend gelten sollen. Damit würden EU-Fördertöpfe offen stehen

Die Atomkraft feiert ein Comeback – und in Europa könnte sie demnächst sogar mit einem grünen Pickerl versehen werden. Motor hinter dem Betreiben, Nuklear-Energie als „nachhaltige Energieform“ einzustufen, die der Umwelt „keinen bedeutenden Schaden zufügt“, ist die Atom-Großmacht Frankreich.

Präsident Emmanuel Macron hat es schon angekündigt: Um das Land bis 2050 treibhausgasfrei zu machen, werde volle Kraft auf „CO₂-arme“ Atomkraft gesetzt. Zu den bestehenden 56 Reaktoren sollen bald sechs neue dazukommen. 46 Milliarden Euro sind für die sechs Reaktoren veranschlagt. Experten in Frankreichs Rechnungshof gehen aber davon aus, dass die Kosten auf mindestens 64 Milliarden hochschnellen werden.


Für solch gigantische Summen braucht es Investoren. Und so setzt Paris derzeit alles daran, dass EU-Wirtschaftskommissarin Mairead McGuinness Investitionen in Atomenergie und in Erdgas als „Übergangs“-Energiequellen in die Taxonomie aufnimmt. Taxonomie? Das ist der EU-Leitfaden für nachhaltige Investments.


Klimaschutz als Motor
Nicht nur Frankreich, fast alle EU-Staaten stehen vor dem Problem, wie sie ihre Volkswirtschaften klimaneutral machen. Und da sollen nun neben der Kernenergie auch Gaskraftwerke helfen, weil diese nur halb so viel CO₂ emittieren, wie Kohlekraftwerke. Sobald eine Entscheidung fällt, wird die sogenannte „Taxonomie“ der EU fertig sein: „Diese Liste soll ein Instrument sein, um nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten zu definieren. Sie soll ein vertrauenswürdiges Gütesiegel sein“, schildert Johannes Schroeten, Experte für nachhaltige Finanzierung beim Klima-Thinktank e3g, dem KURIER.
Würde nun aber Atomkraft und zudem auch noch fossiles Gas als „Brückentechnologie“ in die Taxonomie aufgenommen, würde dies die Politik ad absurdum führen. „Dann hätte die Liste ein großes Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Strahlung, die Risiken, die noch immer ungelöste Frage der Endlagerung des Atommülls – all das widerspricht dem Prinzip der Nachhaltigkeit“, sagt Schroeten. „Und deshalb hat Atomkraft nichts in einem nachhaltigen Fonds zu suchen.“


Man stelle sich vor: Kleine Privatanleger möchten ihr Geld in grüne Finanzprodukte investieren. Dabei verlassen sie sich auf die Taxonomie der EU. Und im Nachhinein müssen sie feststellen, dass ihr Geld in Gasprojekte oder Atomkraftwerke geflossen ist.

Bis vor Kurzem hatte Österreichs Regierung mit Deutschland einen mächtigen Verbündeten gegen die Atomkraft. Doch Noch-Kanzlerin Angela Merkel zog zurück. Für dieses Entgegenkommen zeigte sich Frankreich dankbar. Man signalisierte Zustimmung für Deutschlands Wunsch, Erdgas als „Brückentechnologie“ zu klassifizieren. Für eine Übergangszeit, so heißt es in Berlin, seien Gaskraftwerke „für eine sichere und bezahlbare Stromversorgung“ unverzichtbar. Experte Johannes Schroeten hält dem entgegen: „Auch Energiegewinnung aus Gas ist keine nachhaltige Technologie. Zudem würden Gaskraftwerke, die wir jetzt bauen, bis 2060 oder 2065 laufen.“ Die EU will eigentlich bis 2050 „klimaneutral“ sein.


Große private Finanzinvestoren, geben Kritiker in Brüssel zu bedenken, würden sich ohnehin hüten, in Atomkraft zu investieren. Wegen überlanger Bauzeiten und überhöhter Kosten. „Atomkraft gilt mittlerweile als die unwirtschaftlichste Form der Stromgewinnung“, bestätigt auch Experte Schroeten.
Das große Geld für Atomkraft wird deshalb auch künftig vom Staat kommen. Werden aber Atom- und Gaskraft künftig in der EU als grün firmieren, schließt sich der Kreis wieder: Denn dann hätten die Atomkraft-Befürworter auch Zugriff auf die großen „grünen“ Fördertöpfe der EU.

Kurier

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