Das Auto als Stromspeicher

27. Dezember 2021

Die ID-Modelle von VW sollen bald bidirektionales Laden beherrschen. Die Funktion kommt per Software-Update und soll künftig helfen, Stromnetze zu stabilisieren.


Dass moderne Elektroautos Smartphones immer ähnlicher werden, sieht man nicht nur daran, dass beide regelmäßig zurück an die Steckdose müssen. Auch bei der Präsentation neuer Features fühlt man sich als E-Auto-Fahrer immer öfter an Newsmeldungen aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik erinnert. So auch bei Volkswagen. Im Rahmen einer Online-Pressekonferenz kündigte man kürzlich gleich eine ganze Reihe neuer Funktionen für alle zukünftigen, aber auch die bereits ausgelieferten ID-Modelle an. Möglich machen das sogenannte Over-the-Air-Updates (OTA), mit denen die Software der betreffenden Fahrzeuge binnen kürzester Zeit auf den aktuellsten Stand gebracht wird.


Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten ist das nun bei VW möglich, und im Verlauf der kommenden Wochen dürfen sich Fahrer der ID.3- und ID.4-Modelle gleich über eine ganze Reihe von neuen Möglichkeiten freuen, die ganz ohne Werkstattbesuch ins Betriebssystem ihres Autos heruntergeladen werden. So steigt etwa die Ladeleistung bei Modellen mit der großen 77-kWh-Batterie von bisher 125 auf jetzt 135 kW an. Der Ladevorgang von fünf auf 80 Prozent der Gesamtkapazität soll damit im Durchschnitt um bis zu neun Minuten schneller vonstattengehen. Neu ist auch der sogenannte Battery Care Mode. Dadurch wird der maximale Ladestand des Akkus standardmäßig auf 80 Prozent limitiert, was langfristig der Haltbarkeit des Energiespeichers zugute kommen soll. Praktisch für Vielfahrer: Durch das Software-Update bezieht das Navigationssystem ab sofort den aktuellen Akku-Ladestand ebenso in die Routenplanung mit ein wie Verkehrs- und Streckendaten. Auf Basis der Leistung sowie der derzeitigen Belegung der Ladesäulen entlang der Route schlägt das Navi wahlweise mehrere kurze Ladestopps mit hoher Leistung oder weniger mit hoher Ladeleistung vor. Für den Verlauf des Jahres 2022 stellt VW zudem das Ende der oft ungeliebten Ladekarten in Aussicht: Unter der Bezeichnung „Plug & Charge“ sollen die E-Autos in Zukunft mittels ISO-15118-Standard mit den Ladesäulen kommunizieren. Die sichere Authentifizierung soll nur wenige Sekunden dauern, danach beginnt der Ladevorgang. Ein echter Gamechanger könnte unter Umständen das sogenannte bidirektionale Laden sein, das laut Volkswagen für alle ab Anfang 2022 ausgelieferten Modelle mit dem größten Akku verfügbar sein wird. Den Anfang machen der neue VW ID.5 sowie der ID.5 GTX. Bei bereits ausgelieferten Autos soll die bidirektionale Technologie sukzessive per Over-the-Air-Update nachgerüstet werden. Eine Anpassung der Hardware des Fahrzeugs ist laut Hersteller nicht notwendig.


Bidirektionales Laden macht es möglich, die in den Akkus von E-Autos gespeicherte Energie auf Wunsch wieder abzugeben. Damit könnten die Akkus der Elektroautos de facto als flexible, mobile Energiespeicher genutzt werden. Jener Strom, der aktuell nicht benötigt wird, kann in einem ersten Schritt ins eigene Hausnetz eingespeist werden (Vehicle-to-Home). Die Voraussetzungen dafür sind ein intelligentes Heim-Energie-Management-System (HEMS) sowie eine spezielle DC-BiDi-Wallbox. Bei dieser handelt es sich im Grunde genommen um einen Wechselrichter, wie er auch für den Betrieb einer Photovoltaikanlage benötigt wird. Konzerninformationen zufolge plant Volkswagen die Entwicklung einer markeneigenen Gleichstrom-Wallbox, mit deren Hilfe die entsprechenden Elektromodelle eine maximale Leistung von zehn Kilowatt abgeben können. Ungeklärt ist bis dato, wie viel der Akkukapazität werksseitig für diesen Zweck freigegeben wird und wie sich eine solche Zweitnutzung als mobiler Speicher auf die Lebensdauer der teuren Lithium-Ionen-Akkus und die damit verbundenen Garantieansprüche auswirkt.


Laut Robert Steinböck, bei der Moon City Salzburg für die Bereiche Produkt und Innovationen zuständig, gibt es gleich mehrere praktikable Anwendungen, bei denen bidirektionales Laden von Nutzen sein könnte: „In einem ersten Schritt können Elektroautos dadurch problemlos stationäre Notstromaggregate überflüssig machen. Wenn man davon ausgeht, dass ein Vierpersonenhaushalt in Österreich übers ganze Jahr gerechnet täglich rund 15 kWh verbraucht, stellt ein 77-kWh-Akku im vollgeladenen Zustand eine durchaus nennenswerte Größe dar.“


Ein weiteres Praxisbeispiel dürfte vor allem für Unternehmen mit größeren Fahrzeugflotten attraktiv sein: Beim sogenannten Peak Shaving stellen mehrere am Ladekabel hängende Elektroautos jeweils einen Teil ihrer Energie zur Verfügung, um beispielsweise einen stationären Schnelllader zu speisen, mit dem dann wiederum ein anderes Flottenfahrzeug binnen kurzer Zeit vollgeladen wird. Sinn hat das vor allem dann, wenn dies zu einer Tageszeit geschieht, zu der die Strompreise besonders hoch sind. Das Unternehmen spart sich damit die Kosten für die kurzfristig notwendige hohe Leistung, während dafür aufgewendete Energie im optimalen Fall über einen längeren Zeitraum nachgeladen wird – etwa über Nacht, wenn die Strompreise deutlich niedriger sind.


Langfristig räumen Experten der bidirektionalen Technologie sogar das Potenzial ein, den gesamten Energiemarkt zu revolutionieren. Beim „Vehicle to Grid“-Modell könnten Elektroautos in Zukunft dabei helfen, die durch die Umstellung auf ökologische Stromerzeugung häufiger zu erwartenden Fluktuationen im Stromnetz zu kompensieren. Die rechtlichen Rahmenbedingungen vorausgesetzt, würden derartig „netzdienliche“ E-Autos nicht nur beim Nachladen den Stromverbrauch ansteigen lassen, sondern könnten selbst Teil der Problemlösung werden. Auf Basis einer maximalen Rückspeiseleistung von zehn Kilowatt könnten 60.000 mit dem Stromnetz verbundene E-Autos zumindest kurzfristig eine ähnliche Leistung erbringen wie die beiden Pumpspeicherkraftwerke Limberg 1 und 2 in Kaprun.

von Florian T. Mrazek

Salzburger Nachrichten

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