Die Gasknappheit ist spürbar, die Preise steigen weiter. Ist das der richtige Moment, um Russland mit Sanktionen im Energiesektor zu drohen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Seit Monaten werfen Sicherheitsexperten Russland vor, die Energieknappheit in Europa als Waffe gegen die EU einzusetzen. Jetzt wollen die Europäer den Spieß umdrehen: Um den russischen Präsidenten Wladimir Putin von einem Angriff auf die Ukraine abzubringen, drohen die EU und die USA mit Sanktionen, die auch den russischen Energiesektor treffen sollen.
Doch vor allem die Bundesregierung hat Zweifel, ob sich der Kreml mit seinen eigenen Waffen schlagen lässt. Sie treibt die Sorge um, dass Strafmaßnahmen gegen russische Rohstofflieferanten nach hinten losgehen könnten. Schon jetzt notieren die Energiepreise in Europa auf Rekordniveau, die Gasspeicher sind nicht rausreichend gefüllt, um für einen kalten Winter vorzusorgen. Kann sich die EU einen Wirtschaftskrieg gegen Russland überhaupt leisten? Fragen und Antworten zur europäischen Energiekrise.
Was plant die EU, und was denkt die Bundesregierung?
Die Europäer drohen Russland im Falle weiterer Aggressionen gegen die Ukraine mit „massiven Konsequenzen und hohen Kosten“, wie es in der jüngsten Gipfelerklärung der europäischen Staats- und Regierungschefs heißt. Gleichzeitig aber vermeiden sie es, sich auf konkrete Maßnahmen festzulegen. Der Grund dafür sind interne Differenzen.
Vor allem die osteuropäischen Staaten wollen die klare Botschaft an Moskau senden, dass Energiesanktionen vorbereitet werden – gerade auch gegen die deutsch-russische Ostseepipeline Nord Stream 2, die von Balten und Polen seit Jahren politisch bekämpft wird. Die Bundesregierung dagegen hält es für falsch, gezielt gegen Nord Stream 2 vorzugehen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Pipeline jüngst als „privatwirtschaftliches Vorhaben“, über das „ganz unpolitisch“ eine deutsche Behörde entscheide – die Bundesnetzagentur.
Wie hart würde Russland von Energiesanktionen getroffen?
Der frühere amerikanische Präsidentschaftskandidat John McCain hat Russland einst abschätzig eine „Tankstelle, die sich als Staat tarnt“, genannt – eine Provokation, aber im Kern zutreffend. Als Wirtschaftsmacht ist Russland relativ unbedeutend. Sogar die italienische Wirtschaft ist größer als die russische. Macht verleiht Moskau neben der Stärke des Militärs vor allem der Export von Gas und Öl. Darin liegt aber auch die größte Schwachstelle des Landes. Ohne die Einnahmen aus dem Handel mit Rohstoffen könnte der Kreml seinen gewaltigen Militärapparat nicht finanzieren.
Fast die Hälfte des Staatshaushalts bestreitet Russland mit dem Verkauf von Öl und Gas. Das ist der Grund dafür, warum Energiesanktionen in Washington als besonders wirksame Abschreckungsmaßnahme gelten.
Wie abhängig ist Deutschland von russischen Exporten?
Deutschlands mit Abstand wichtigster Lieferant von Energierohstoffen ist seit Jahren Russland. Das Land liefert mehr Erdöl, Erdgas und Steinkohle als die Lieferländer zwei, drei und vier – das sind Norwegen, die Niederlande und die USA – zusammen. Wer weniger Erdgas, Erdöl oder Steinkohle aus Russland beziehen möchte, hat durchaus Alternativen. Erdgas, Erdöl und Steinkohle sind auf dem Weltmarkt auch von anderen Quellen zu beziehen. Das Erpressungspotenzial Russlands ist daher sehr begrenzt.
Allerdings ist Deutschland mit den russischen Energierohstoffen in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut gefahren. Gerade günstiges russisches Erdgas ist für einige Branchen, etwa für die Chemieindustrie, einer der Garanten für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Wenn man Russland ausschließlich durch Lieferländer ersetzen wollte, die über jeden politischen Zweifel erhaben sind, stößt man außerdem schnell an Grenzen. Dieser Realität muss sich das rohstoffarme Industrieland Deutschland stellen.
Vor diesem Hintergrund tun sich hinter den Forderungen, russische Energielieferungen zu sanktionieren, große Fragezeichen auf. Schon zu Jahresbeginn hatte CDU-Politiker Norbert Röttgen angemerkt, es sei „keine kluge Strategie, mit unserer eigenen Nichtversorgung zu drohen“. Damals ging es um die Frage, ob man den Betrieb von Nord Stream 2 unterbrechen sollte, falls Russland die Pipeline als politische Waffe einsetzen sollte.
Welche Zusagen hat Deutschland den USA gemacht?
Um den transatlantischen Streit über die Ostseepipeline Nord Stream 2 beizulegen, hat sich die Bundesregierung vor einem halben Jahr in einer gemeinsamen Erklärung mit den USA verpflichtet, „auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen“ zu dringen, „um die russischen Kapazitäten für Exporte nach Europa im Energiesektor, auch in Bezug auf Gas, zu beschränken“. Weiter heißt es: „Diese Zusage zielt darauf ab sicherzustellen, dass Russland keine Pipeline, einschließlich Nord Stream 2, zur Erreichung aggressiver politischer Ziele einsetzt, indem es Energie als Waffe nutzt.“
Die USA sind der Auffassung, dass der Zeitpunkt, diese Drohung wahr zu machen, unmittelbar bevorsteht. Die USA „sind dabei, mit unseren Partnern und Alliierten“ Sanktionen vorzubereiten, diese würden „wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen“ umfassen, sagte jüngst eine hochrangige US-Diplomatin. „Wir sind bereit, eine Reihe von Dingen in Erwägung zu ziehen, zu denen wir in der Vergangenheit nicht bereit waren.“
Es habe zudem „gute Diskussionen“ über die Nord-Stream-2-Frage mit der neuen Bundesregierung gegeben. Vor allem die Aussage der grünen Außenministerin Annalena Baerbock, Nord Stream 2 könne Stand jetzt nicht in Betrieb gehen, gefällt den Amerikanern. Die US-Diplomatin sprach von einem „sehr starken Statement in Bezug auf Nord Stream 2 und die Verständigung, die wir mit ihnen haben“, gemeint sind die Deutschen.
Im SPD-Kanzleramt erinnert man sich an die Zusage in der Nord-Stream-2-Erklärung inzwischen ungern. Es mache keinen Sinn, sich Nord Stream 2 „gezielt herauszugreifen“, sagte ein enger Scholz-Berater zuletzt. Es gebe „auch andere Pipelines, über die man reden könnte, das aber nicht tut“.
Wer ist für die hohen Gaspreise verantwortlich?
Für die Bundesregierung haben die hohen Gaspreise „fundamentale“ Ursachen. Eine hohe Nachfrage treffe bei der Erholung von der Coronakrise auf ein knappes Angebot, verantwortlich dafür seien die ungewöhnlich kalte vergangene Wintersaison und Produktionsstörungen in Russland.
Hinzu kommt: Die Gasnachfrage aus Asien ist im ersten Halbjahr förmlich explodiert, was einen enormen Preisanstieg ausgelöst hat. Das hat dazu geführt, dass viele Händler weniger Gas gekauft haben, um die Speicher über den Sommer zu füllen und sich damit angemessen für den Winter 2021 2022 einzudecken.
Anzeichen dafür, dass Russland den Markt manipuliert, um Europa unter Druck zu setzen, sehen Scholz‘ Berater nicht. Zwar könne man sich fragen, ob Russland in der Lage wäre, mehr zu liefern, heißt es aus dem Kanzleramt. Aber: „Wir können von unseren Lieferanten nicht mehr verlangen, als dass sie ihre Verträge erfüllen.“
Die USA schätzen die Lage ganz anders ein. Schon Ende Oktober stellte Amos Hochstein, Sonderbeauftragter für globale Energiesicherheit im amerikanischen Außenministerium, klar: Die Russen „könnten die Gasproduktion erhöhen, sie sollten es tun, sie sollten es schnell tun, und sie sollten dafür die bestehenden Pipelines verwenden“ – also nicht warten, bis Nord Stream 2 in Betrieb geht. Tatsächlich hatte Putin schon vor mehreren Wochen angekündigt, mehr Gas nach Europa zu schicken. Allerdings sind die Liefermengen bisher kaum angestiegen.
Das hat zuletzt auch bei Fürsprechern Russlands für Irritation gesorgt. Tatsächlich nutzt Russland die Kapazitäten für den Gastransit durch die Ukraine derzeit nicht annähernd aus. Man habe keine Erklärung dafür, warum die Russen sich so verhielten, sagen Insider. Es gebe keine Hinweise auf Produktionsstörungen.
Droht Deutschland und Europa jetzt ein kalter Winter?
Die Gasbranche setzt alles daran, eine Situation zu verhindern, in der es in deutschen Wohnungen kalt wird. Die Unternehmen werten die Ende November vorgestellten Ergebnisse eines Stresstests durch ENTSOG, das Netzwerk der 45 europäischen Ferngasnetzbetreiber, als Signal dafür, dass die Gasversorgung auch unter ungünstigen Umständen gesichert ist.
Tatsächlich haben die Gasnetzbetreiber in den vergangenen Jahren in erheblichem Umfang investiert, um flexibler zu werden und besser über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinweg kooperieren zu können. Das zahlt sich nun aus.
Gleichwohl schließen Fachleute nicht aus, dass es in diesem Winter zu Unterbrechungen der Versorgung kommen könnte – allerdings nur im Rahmen vertraglicher Vereinbarungen: Industriekunden, die kurzfristig auf andere Brennstoffe umstellen können, werden dann vorübergehend nicht mit Gas versorgt – und lassen sich das honorieren.
Dass es knapper wird als in vergangenen Jahren, lässt sich durch einen Blick auf den Füllstand der deutschen Gasspeicher belegen: Sie sind bereits unter die 60-Prozent-Marke gefallen und bewegen sich in Richtung 55 Prozent. Der Wert liegt weit unter dem langjährigen Mittel.
Könnten die USA mit Flüssigerdgas (LNG) zu Hilfe eilen?
Das ist eher nicht zu erwarten. Die US-Regierung selbst dämpft die Erwartung. Die USA seien bereits einer der weltgrößten Gasexporteure, betont Energiebotschafter Hochstein immer wieder. Doch über die Lieferungen von amerikanischem Flüssiggas entscheide der Markt. Man sei nicht in der Position, Firmen anweisen zu können, an wen sie ihr Gas verkaufen sollten, argumentiert die US-Regierung. Da in Asien deutlich höhere Preise gezahlt werden, fahren die LNG-Tanker aus den USA lieber in Richtung Japan, Taiwan oder Südkorea.
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55 Prozent beträgt der Füllstand der deutschen Gasspeicher. Der Wert liegt weit unter dem langjährigen Mittel.
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