„Wir verlieren unseren gesamten Cashflow“

31. Dezember 2021


Viele Industriekunden müssen zu Höchstständen neue Verträge für Strom und Gas abschließen. Teilweise unverschuldet – weil ihr Versorger die Lieferung einstellt.

Chri stian Schabert ist verzweifelt: „Wir verlieren unseren gesamten Cashflow und schreiben ab 1. Januar 2022 rote Zahlen“, sagt der Geschäftsführer der Rudolf Geitz GmbH aus Dinkelsbühl. Zum Jahresende läuft der Stromvertrag des Unternehmens, das im Kunststoffspritzguss tätig ist, aus.


Wegen der drastisch gestiegenen Preise im Großhandel muss der Mittelständler plötzlich mit einer Verdreifachung der Stromkosten zurechtkommen – bei einem Jahresverbrauch von immerhin einer Million Kilowattstunden. „Deutschland als Industrieland Nummer eins in Europa werden solche Strompreise in den Abgrund reißen“, ist Schabert sicher.
So wie der Rudolf Geitz GmbH geht es vielen Unternehmen in Deutschland, kleinen wie großen. Zu Tausenden haben sie sich nicht langfristig abgesichert. Anderen werden Verträge gekündigt wie Privatkunden, weil ihr Versorger nicht mehr liefern kann. Jüngst verschickte die Kehag aus Oldenburg, die auf Großkunden spezialisiert ist, Kündigungen zum Jahreswechsel.


„Diese Unternehmen bekommen jetzt Panik“, sagt Wolfgang Hahn, der mit seiner Energie Consulting GmbH (ECG) Großkunden bei Stromverträgen berät. „Strom und Gas sind aktuell ja absurd teuer.“ Derzeit schlagen viele Unternehmen bei ihm auf. Die hohen Energiepreise stellen die Wirtschaft vor eine besondere Herausforderung. Die Kosten für Strom und Gas sind im Großhandel geradezu explodiert, haben sich innerhalb weniger Monate vervielfacht.
Schon im Sommer klagten Unternehmen über hohe Strompreise, die sie beim Abschluss neuer Verträge bezahlen mussten. Damals kostete eine Megawattstunde, die im Jahr 2022 geliefert werden sollte, 74 Euro. Das war deutlich mehr als die 51 Euro zum Jahresanfang – aber kein Vergleich zu den Preisen, mit denen der Handel kurz vor Weihnachten beendet wurde. Ganze 282 Euro musste bezahlen, wer auf den letzten Drücker noch einen Vertrag schloss.


Millionen an Mehrkosten durch gestiegene Preise
Bei Gas sieht es nicht anders aus. In den vergangenen Tagen kletterte der Preis für eine Megawattstunde, der Anfang des Jahres noch bei 16 Euro gelegen hatte, zwischenzeitlich auf 141 Euro.


„Der Anstieg der Preise war schon im dritten Quartal so dramatisch, dass wir dachten, es muss bald wieder runtergehen“, berichtet der Einkaufschef eines großen Mittelständlers aus Nordrhein-Westfalen. So wie fast alle großen Unternehmen, die von der Preisentwicklung überrascht wurden, will der Großkunde unerkannt bleiben.
Schließlich hat sich der Maschinenbauer, der knapp zwei Milliarden Euro umsetzt, schnöde verzockt. Die erhoffte Trendwende blieb aus, die Preise kletterten immer weiter. „Wir haben lange abgewartet und letztlich den richtigen Zeitpunkt verpasst“, sagt der Energiemanager. Jetzt muss das Unternehmen im kommenden Jahr wohl allein für die deutschen Werke fünf bis sechs Millionen Euro für Strom und Gas bezahlen. Bisher waren es drei Millionen.
Das Traditionsunternehmen schloss in der Vergangenheit für gewöhnlich Strom- und Gasverträge mit zwei Jahren Laufzeit. Die aktuellen laufen Ende des Jahres aus. In ihnen wurde ein Preis für Ökostrom, auf den das Unternehmen Wert legt, von maximal 50 Euro je Megawattstunde garantiert. Jetzt sind zunächst 260 Euro fällig. Bei Gas steigt der Preis von 20 auf rund 100 Euro die Megawattstunde.


Zumindest im ersten Quartal 2022, dafür hat das Unternehmen erst einmal den nächsten Vertrag geschlossen. „Wir gehen davon aus, dass das jetzt der Peak ist“, sagt der Einkaufsmanager. Im Frühjahr, Sommer, wenn sich die Preise hoffentlich beruhigt haben, will das Unternehmen dann weitersehen – und sich längerfristig eindecken.
So wie diesem Mittelständler geht es momentan Tausenden Großkunden in Deutschland: „Die drastisch gestiegenen Energiepreise bringen viele Unternehmen in Not“, sagt Berater Klaus Kreutzer, der mit seinem Unternehmen Kreutzer Consulting auf die Energiebranche spezialisiert ist: „Viele haben zu lange auf eine Trendwende gesetzt – und sich nicht rechtzeitig abgesichert.“


Besonders bitter ist die Situation für Unternehmen, die vorgebeugt haben – jetzt aber Schreiben wie diese erhalten: „Der Preisanstieg ist derart dramatisch, dass es uns leider unmöglich ist, ab dem 01.01.2022 Ihre weitere Versorgung sicherzustellen“, heißt es in dem Brief, der dem Handelsblatt vorliegt, mit Verweis auf die Turbulenzen an den Weltmärkten. „Vor diesem Hintergrund müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir die Lieferung von Strom Erdgas ab dem 01.01.2022 einstellen werden.“


In den vergangenen Wochen haben bereits viele Versorger, die Verbraucher belieferten, aufgegeben. Das vorliegende Schreiben wurde aber nicht an Privathaushalte verschickt, sondern an Großkunden aus der Wirtschaft. Absender ist die Kehag, die sich auf die Belieferung von Kommunen, öffentlichen Einrichtungen, aber eben auch Unternehmen spezialisiert hat. Die Kehag wollte sich auf Anfrage nicht äußern.


„Die Schieflage von Strom- und Gaslieferanten trifft nicht nur Privatkunden, sondern auch Unternehmen“, bestätigt aber Berater Kreutzer, der von vielen Betroffenen gehört hat. Vielen Großkunden seien Verträge gekündigt worden. „Und jetzt müssen sie bei dem extrem hohen Preisniveau neue Lieferanten finden.“
Und das, obwohl sich die Unternehmen eigentlich abgesichert wähnten: „Sie haben im Grunde alles richtig gemacht und stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen“, sagt ECG-Chef Hahn. Denn Kehag ist kein Einzelfall.

Die betroffenen Unternehmen sind in einer noch schwierigeren Situation als Privathaushalte. Bei denen greift schließlich ein Automatismus, wenn ihr Lieferant das Geschäft einstellt: Sie fallen automatisch in die Grundversorgung zurück. Die örtlichen Stadtwerke übernehmen die Belieferung zum Grundtarif. Der ist zwar teurer als die Billigtarife im Internet, aber immerhin reguliert.


Unternehmen sind dagegen Sondervertragskunden – sie haben diesen Fallschirm nicht. In der Regel wird auch bei ihnen der örtliche Versorger die Belieferung sicherstellen, aber zu neu auszuhandelnden Konditionen. Und die dürften beim aktuellen Marktumfeld nur vorübergehend zu tragen sein.


So oder so sind die Unternehmen, die nicht abgesichert sind, mit einer kniffligen Fragestellung konfrontiert: „Wer jetzt zukaufen muss, steht vor einer schwierigen Entscheidung: Wie lange soll er sich eindecken? Wie lange hält die Hochpreisphase an?“, sagt Berater Kreutzer. „Zumindest bis Ende der Heizperiode dürften die Preise hoch bleiben.“
Für viele Unternehmen sei es sicher sinnvoll, erst einmal abzuwarten, kurzfristig einzukaufen und für längere Verträge auf sinkende Preise zu warten – wie es der Maschinenbauer aus Nordrhein-Westfalen gemacht hat. „Es gibt aber auch Unternehmen, für die ist Planbarkeit vorrangig“, sagt Kreutzer.


Das gilt vor allem für Unternehmen, die ohnehin ihre Kosten weitergeben können. Sie sind sogar bei dem hohen Preisniveau bereit, längerfristige Verträge abzuschließen. Schließlich sind am Terminmarkt die Preise für 2023 oder 2024 zwar auch deutlich höher als noch vor wenigen Monaten, aber auch entscheidend geringer als aktuell.
Das gelingt aber nur wenigen Unternehmen. Alle anderen sind gleich mehrfach getroffen. Die höheren Energiepreise kämen noch zu den anderen Kosten hinzu, die sich zuletzt erhöht hätten, berichtet der Einkaufschef des gebeutelten Maschinenbauers, etwa für die Logistik oder Materialien: „Viele Lieferanten erhöhen auch schon ihre Preise mit Verweis auf die Energiekosten.“


Auch sein Unternehmen versucht, die Energiekosten weiterzugeben. Das sei für den Vertrieb aber keine einfache Aufgabe, sagt der Manager. Der Schritt müsse gut verkauft werden.

Deutsche Firmen haben Wettbewerbsnachteil
Auf jeden Fall sind die Energiepreise ein Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen, wie der Maschinenbauer berichtet. Das Unternehmen ist global aktiv, produziert unter anderem auch in China und Russland. „In anderen Ländern – beispielsweise China – werden die Preise gedeckelt“, sagt der Einkaufschef. „So schlimm wie in Deutschland trifft es uns in keinem anderen Land.“


Bei Strompreisen von 200 Euro für die Megawattstunde lasse sich energieintensive Produktion in Deutschland nicht wirtschaftlich betreiben, sagt auch Berater Hahn: „Dafür ist der Druck im globalen Wettbewerb zu hoch.“
Hahn rät seinen Kunden schon länger, strukturiert einzukaufen, also sich in mehreren Schritten und Tranchen abzusichern. Dann schlagen solche Preisspitzen wie jetzt nicht voll durch. Bei der aktuellen extremen Preisrally empfiehlt aber auch Hahn Unternehmen, erst mal abzuwarten. „Derzeit rate ich, kurzfristig einzukaufen – und darauf zu warten, dass sich der Markt wieder beruhigt“, sagt Hahn. Aktuell wäre es „absurd“, sich längerfristig einzudecken.
Das will der große Maschinenbauer aus Nordrhein-Westfalen jetzt auch machen. Im Frühjahr werde man erst einmal schauen, wie man sich für den Rest des Jahres eindeckt, wenn hoffentlich die Preise gesunken sind – und sich dann in Tranchen absichern. „Darüber werden wir uns im Januar detaillierter Gedanken machen“, sagt der Manager. Vielleicht wird sich das Unternehmen auch selbst Stromproduktion sichern und mit langfristigen Verträgen feste Lieferungen aus Wind- oder Solarparks einkaufen.


Geschäftsführer Schabert von der Rudolf Geitz GmbH fordert aber auch von der Regierung Hilfe: vorübergehende Kompensationszahlungen für besonders betroffene Betriebe. „Die Firmen benötigen eine Überlebensperspektive“, sagt Schabert. „Einen Industriebetrieb kann man nicht wie eine Gaststätte vorübergehend schließen und später wieder aufmachen. Schließen heißt: dauerhaft schließen.“


ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
Einen Industriebetrieb kann man nicht wie eine Gaststätte vorübergehend schließen und später wieder aufmachen. Christian Schabert Geschäftsführer Rudolf Geitz GmbH Die Schieflage von Strom- und Gaslieferanten trifft nicht nur Privatkunden, sondern auch Unternehmen. Klaus Kreutzer Kreutzer Consulting

Handelsblatt

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