Ampel hadert mit Atomstrom

5. Jänner 2022, Deutschland

Die Grünen ringen mit den EU-Vorgaben zur Nachhaltigkeit. Über eine Klage denke die Regierung nicht nach.

Silvesterabend, Punkt zwölf Uhr, Mitternacht. Während Deutschland dem neuen Jahr entgegen feierte, drehten sich im Dunkeln die Windräder, die Flüsse drückten an die Turbinen, in riesigen Kohleöfen oder Gasheizkammern wurde Wasser verdampft und in den Kühlungsbecken glimmten die nuklearen Brennstäbe. Nur die Solarpanels lagen brach, wie jede Nacht. Nach nur wenigen Stunden änderte sich die Lage: Zwar schien nun die Sonne, doch der Wind flaute ab. Spätestens um neun Uhr, als mehr und mehr Computer, Toaster oder Fernseher angingen, mussten die Deutschen etwas Strom importieren – trotz glimmender Kohle, brennenden Erdgases und zerfallender Atombrennstäbe.

Die Ampel im Krisenmodus

Es ist eines der Probleme, das die neue deutsche Regierung aus SPD, Grünen und FDP lösen möchte. Das Land soll klimaneutraler werden, sein Strom zu 80 Prozent aus nachhaltigen Quellen wie Wind, Sonne und Wasser kommen. Keine Kohle, kein Uran, weniger Gas.

Der Neujahrsmorgen brachte nicht nur schlechten Wind, sondern auch schlechte Nachrichten aus Brüssel, dem Sitz der EU-Kommission. Kurz vor dem Jahreswechsel landete ein Papier in den Mailboxen von EU-Korrespondenten, die sogenannte Taxonomie.

Mit ihr schrieb die EU-Kommission einen Vorschlag auf, welche Energieformen für Investoren und EU-Staaten als grün, also nachhaltig gelten sollen. Auf der Liste stand nicht nur der fossile Brennstoff Erdgas sondern auch die Atomkraft. Seitdem befindet sich die Ampel im Krisenmodus.

Vor allem die Grünen hatten ihren Wählern etwas anderes angedeutet. Die Partei wurzelt in der Anti-Atom-Bewegung, die gelben Sticker mit der Aufschrift „Atomkraft? Nein danke“ gelten noch heute als Erkennungszeichen.
Aber auch zum Erdgas kamen kritische Töne aus grünen Ideen nahe stehenden Organisationen. Anfang November veröffentlichte der Thinktank „Agora Energiewende“ eine Analyse, in der gewarnt wird, den Ausbau des bestehenden Erdgasnetzes voranzutreiben, da dieses zum Großteil zum Heizen verwendet werde. So werde viel Geld in eine Lösung gesteckt, die langfristig nicht tauge, um die klimapolitischen Probleme Deutschlands zu mindern.

Der Thinktank ist nicht irgendeine Randgruppe: Patrick Graichen, Gründer und bisheriger Leiter von Agora Energiewende, wechselte als „Energiestaatssektretär“ ins neue Klimaschutz- und Wirtschaftsministerium, das vom Grünen Robert Habeck geleitet wird. Dort kümmert er sich in um den Umbau der Stromproduktion.
Die EU-Taxonomie ist für die deutschen Grünen ein PR-Desaster: Ausgerechnet sie sollen zusehen, wie etliche Milliarden Euro an Investitionen in Atomstrom und Erdgas umgeleitet werden? Wie lässt sich das den eigenen Wählern erklären? Auf der anderen Seite: Soll die neue Regierung in ihren ersten hundert Tagen gleich halb Europa verprellen, in dem es der EU-Taxonomie nicht zustimmt?

„Erdgas ist unverzichtbar“

Es ist eine von vielen Zwickmühlen, die für die so ungleichen drei Parteien bereitstehen. So stellte sich FDP-Justizminister Marco Buschmann zwar an die Seite der Grünen und schloss eine Klage – wie von der österreichischen Regierung angedacht – nicht kategorisch aus. Ein Regierungssprecher begrüßte die EU-Taxonomie aber und sagte am Montag, dass Deutschland nicht über rechtliche Schritte gegen den Vorschlag der EU-Kommission nachdenke.
Für die deutschen Grünen rückten Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Umweltschutzministerin Steffi Lemke und mehrere Umweltverbände aus. Ihr Urteil: inakzeptabel, „greenwashing“. Wenn die Koalition zustimmt, riskiere sie ihren Ruf als klimapolitische Aufbruchsregierung, sagte etwa Sascha Müller-Kraenner, der Chef der Naturschutz- und Verbraucherorganisation Deutsche Umwelthilfe. „Atomkraft und Erdgas als nachhaltig zu kennzeichnen, entzieht der Taxonomie jede Glaubwürdigkeit“, sagte er am Montag.

Zumindest beim Erdgas müssen die Grünen allerdings aufpassen, nicht ihre eigene Glaubwürdigkeit zu strapazieren. „Erdgas ist für eine Übergangszeit unverzichtbar“, steht im Koalitionspapier, das die Öko-Partei mit ausgehandelt hat und von ihrer Basis absegnen ließ. Demnach sollen rasch moderne Gaskraftwerke gebaut werden, dazu viele Leitungen, alles auf Wasserstoff umrüstbar.

So ähnlich hatte das auch die EU-Kommission in ihrem Vorschlag festgehalten, der nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, ein neues Gaskraftwerk als nachhaltig zu bezeichnen. Der deutschen Regierung würde das erleichtern, von Investoren jenes Geld zu bekommen, das sie für ihre eigenen Pläne benötigt.

von unserem Korrespondenten Christoph Zotter

Die Presse