Der Winter der „hysterischen“ Preise

12. Jänner 2022, Wien

Energie. Deutschland nimmt Kernkraftwerke vom Netz, Russland liefert weniger Gas – und die Österreicher zahlen um die Hälfte mehr für Strom als die Deutschen. Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma, doch der kostet viel Zeit und Geld.


Das Wetter hat es gut gemeint mit den Deutschen. Pünktlich zum Jahreswechsel, als Berlin planmäßig die Atomkraftwerke in Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen eingemottet hatte, setzte in weiten Teilen Europas Tauwetter ein. Von der befürchteten Lücke in der Stromversorgung ist vorerst also nichts zu sehen. Stattdessen setzten sich die Turbulenzen an den Strombörsen unvermindert fort.


Am Mittwoch wehte starker Wind in Deutschland, die Windkraftanlagen im Norden sorgen für billigen Strom wie lang nicht mehr. Österreich hatte davon aber leider wieder einmal herzlich wenig. Die heimischen Stromkunden mussten am Mittwoch im Schnitt fast um die Hälfte mehr bezahlen als die Deutschen. Und das, obwohl sie grundsätzlich auf demselben Markt einkaufen sollten.


Netzinfrastruktur zu schwach
Der Österreich-Aufschlag trifft vor allem energieintensive Unternehmen, die in Konkurrenz zu deutschen Betrieben stehen. Und das nicht erst seit heuer. „Seit November haben sich etliche Großkunden bei uns gemeldet“, sagt Alfons Haber, Vorstand der E-Control zur „Presse“. Sie befürchten Wettbewerbsnachteile und wollen, dass die Behörde ein Auge darauf hat, ob alle Preiserhöhungen ihrer Lieferanten wirklich gerechtfertigt sind.


Grundsätzlich ist das Thema nicht neu: Im Winter, wenn hierzulande die Flüsse wenig Wasser führen, ist Österreich von teuren Gaskraftwerken abhängig, während in Deutschland günstigere Wind- und Kohlekraftwerke in Betrieb sind. Lange Jahre hat Österreich davon profitiert und massenhaft Strom aus Deutschland importiert. Aber das ist nicht mehr so einfach möglich. „Leider ist die zu schwache Netzinfrastruktur in Europa – aber vor allem auch in Österreich – sehr oft nicht in der Lage, den erneuerbaren (günstigeren) Strom aus den Überschussgebieten in Nord- bzw. Ostdeutschland an die Kunden zu liefern“, sagt Gerhard Christiner, Technikvorstand beim Übertragungsnetzbetreiber APG.


Denn sobald auch nur eine Leitung vor oder nach der österreichischen Grenze an ihr Limit stößt, ist Schluss mit der gemeinsamen Preiszone. Dann bezahlen die Österreicher den teureren Strom aus Österreich und die Deutschen den Strom, der in Deutschland erzeugt wird. „Je stärker die Netze ausgebaut sind, desto besser funktioniert der europäische Markt“, bestätigt auch Alfons Haber. Darum sei neben dem Ausbau der Ökostrom-Kraftwerke vor allem auch der Ausbau der Netzinfrastruktur entscheidend für das Gelingen der Energiewende. Doch der Bau von Leitungen ist teuer, zeitaufwendig – und stößt oft auf Widerstand der Anrainer. Das gilt nicht nur für Österreich, auch in Deutschland gibt es genug Engstellen, die den Export nach Österreich erschweren.

Entspannung frühestens 2023
Hier könnte der deutsche Kohle- und Atomausstieg die Situation für Österreich weiter verschlechtern, warnen Experten. Denn sowohl Kohle- als auch Atomkraftwerke sind im Süden Deutschlands positioniert. Werden sie geschlossen, fehlt im Netz eine wichtige Stütze, um Ökostrom aus dem Norden in Richtung Süden zu bringen.


Die E-Control rechnet daher mit weiteren Steigerungen der österreichischen Strompreise um ein Fünftel auf rund 240 Euro je Megawattstunde im heurigen Jahr. Getrieben wird diese Entwicklung vom Gaspreis, da in Österreich oft Gaskraftwerke als teuerste Kraftwerke den Preis für alle bestimmen. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Gaspreis vervielfacht – und es gibt wenig Anzeichen, dass sich daran in den nächsten Wochen etwas ändern wird. So liefert Russland nun schon seit drei Wochen kein Gas durch die Jamal-Pipeline nach Europa. Stattdessen versorgt Deutschland durch diese Röhre Polen mit Gas.


Dennoch seien die Gaspreise in dem Winter „hysterisch“, „von Panik getrieben“ und „fundamental nicht erklärbar“, sagt Johannes Mayer, Chefökonom der E-Control. Erst im Frühjahr rechnet der Regulator mit einem Abflauen der Strom- und Gaspreise in Österreich. Eine Rückkehr zu niedrigen Preisen wie vor der Pandemie erwartet er vorerst aber nicht.
Und Deutschland? Auch dort dürfte es in den kommenden Monaten und Jahren für Stromkunden zunehmend härter werden, erwarten Analysten. Denn mit dem Abschalten der drei Kernkraftwerke verzichtet die Bundesrepublik auf vier Gigawatt sogenannter Grundlast, also stabiler, jederzeit abrufbarer Stromproduktion. Wind und Sonne allein können das nicht abfedern. Auch Berlin wird künftig auf Gaskraftwerke angewiesen sein. Der Branchendienst Platts rechnet mit einer Verdoppelung der deutschen Strompreise auf 200 Euro je MWh. Der Vorteil gegenüber Österreich wäre passe. Ein schwacher Trost, denn billiger für heimische Stromkunden wird es dadurch nicht.
von Matthias Auer

Die Presse