Hunderte Atomkraftwerke als Lösung für die Klimakrise?

13. Jänner 2022, EU-weit/Brüssel

Rund 36 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl erlebt Atomkraft ein Revival in Europa. Mit Blick auf die selbstgesteckten Klimaziele unterstützt eine Mehrheit der EU-Staaten den jüngsten Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraft als grüne Energie einzustufen und damit die Förderung moderner Kernkraftwerke in Europa. Die Rolle der Nuklearenergie im Kampf gegen die Klimakrise ist selbst unter Experten umstritten. Kann Atomkraft die Klimakrise lösen?

1. Wie hoch ist der Anteil der Atomkraft an der Stromproduktion in der EU?

Ein Viertel der Stromproduktion in der Europäischen Union 2020 stammte laut dem EU-Statistikamt Eurostat aus Atomkraft. Demnach erzeugten 13 EU-Staaten 683.512 Gigawattstunden (GWh) Atomstrom, im Jahr 2019 waren es noch rund 26 Prozent und 765.337 GWh.

Der größte Erzeuger von Kernenergie in der EU war Frankreich (52 Prozent, 353.833 GWh), gefolgt von Deutschland (neun Prozent, 64.382 GWh), Spanien (neun Prozent, 58.299 GWh) und Schweden (sieben Prozent, 49.198 GWh). Zu Beginn des Jahres 2020 waren in 13 EU-Mitgliedstaaten insgesamt 109 Kernreaktoren in Betrieb. Im Laufe des Jahres 2020 wurden drei Kernreaktoren endgültig abgeschaltet – zwei in Frankreich und einer in Schweden.

Der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton schätzte jüngste mit Verweis auf Experten, dass der Anteil bis 2050 auf rund 15 Prozent sinken werde – abhängig von der Verfügbarkeit anderer Energieträger. Da der Bedarf an kohlenstofffreien Energien erheblich steigen werde, müsse die Produktion von Kernenergie proportional erhöht werden.

Der Anteil der fossilen Brennstoffe, darunter Kohle und Erdgas, für die Stromproduktion lag 2019 bei rund 44 Prozent. Angetrieben durch diese sind die energiebedingten Treibhausgasemissionen im letzten halben Jahrhundert nach Angaben der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA/IAEO) in die Höhe geschossen: Sie machen heute mehr als zwei Drittel aller Emissionen aus, hieß es in einem Bericht vom Sommer 2020.

2. Ist Atomkraft CO2-neutral?

Keineswegs. Bei Uranabbau, Brennelementherstellung, Kraftwerksbau und -rückbau sowie Endlagerung ist teilweise ein hoher Energieaufwand notwendig. Laut einem Bericht des UNO-Weltklimarats (IPCC) von 2014 liegen Treibhausgasemissionen von Kernkraftwerken über den gesamten Lebenszyklus im Bereich von 3,7 bis 110 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde, wahrscheinlich eher im Bereich von zwölf CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde, wie das deutsche Umweltbundesamt (UBA) auf seiner Homepage darlegt.

Dazu gibt es allerdings unterschiedliche Berechnungen, die aber meist eines gemein haben: Atomkraft liegt in der CO2-Emission hinter fossilen Energieträgern wie Braunkohle und Erdgas, teilweise sogar hinter Solar- und Windenergie.

Aktuelle Daten des UBA zeigen allerdings, dass Kernkraft 3,5-mal mehr CO2 pro Kilowattstunde ausstößt als Photovoltaikanlagen. Verglichen mit Onshore-Windkraft sei dieser Wert auf 13-mal mehr CO2 gestiegen, gegen Strom aus Wasserkraftanlagen erzeuge Atomkraft 29-mal mehr Kohlenstoff.

3. Wofür braucht es die Taxonomie?

Die EU-Staaten haben sich ehrgeizige Ziele gesteckt: Sie wollen bis 2030 mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen als 1990 und bis 2050 klimaneutral werden. Geht es nach der EU-Kommission und der Mehrheit der Mitgliedsländer unterstützt Atomkraft als sogenannte Übergangstechnologie den Weg dorthin – dagegen stellen sich unter anderem Österreich, Luxemburg und Deutschland. Mit der sogenannten Taxonomie – also der Einstufung – will die Brüsseler Behörde festlegen, welche Geldanlagen als klimafreundlich gelten sollen.

4. Wie viel Atomkraft bzw. Atomkraftwerke braucht es in Europa für eine deutliche Reduktion der Treibhausgase?

Angenommen die Atomkraft soll primär den Kohleausstieg in Europa abfangen: Die Stromproduktion der Kohle aus dem Jahr 2020 in der EU betrug laut der Internationalen Energieagentur (IEA) 386 Terawattstunden, diese wären also durch Nuklearenergie abzudecken. Davon ausgegangen, dass ein Kernkraftwerk 8.000 jährliche Betriebsstunden hat, braucht es je nach Größe der AKW zwischen 30 und 661 als Ersatz für Kohlekraftwerke – inkludiert in die Berechnungen sind auch sogenannte Small Modular Reaktor (SMR).

Wie schon erwähnt spielt dabei die Größe eine entscheidende Rolle. Ältere Reaktoren hatten etwa 440 Megawatt Leistung, deutsche Siedewasserreaktoren zwischen 700 und 1.400 Megawatt, die neueren Reaktoren besitzen alle mehr als 1.000 Megawatt. Derzeit ist auch die Rede von SMR. Sie sind allerdings leistungsmäßig noch nicht definiert und nicht im kommerziellen Betrieb – jedes Modul soll aber nicht mehr als 300 Megawatt haben.

Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2021 einer Forschungsgruppe um den Atomsicherheits-Experten Nikolaus Müllner kam allerdings zu dem Schluss, dass der Beitrag der Kernenergie zur Abschwächung der Klimakrise sehr begrenzt ist und dies auch in Zukunft sein wird. Gegenwärtig vermeide die Kernenergie jährlich zwei bis drei Prozent der gesamten globalen Treibhausgasemissionen. Angesichts der angekündigten Neubaupläne und Laufzeitverlängerungen würde dieser Wert bis 2040 noch weiter sinken.

Darüber hinaus wird laut der Studie ein wesentlicher Ausbau der Kernenergie aufgrund technischer Hindernisse und begrenzter Ressourcen nicht möglich sein. Der begrenzte Vorrat an Uran-235 verhindere wesentliche Ausbauszenarien mit der derzeitigen Kerntechnik. Neue Nukleartechnologien, die auf Uran-238 zurückgreifen, werden demnach nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen. Selbst wenn solche Ausbauszenarien möglich wären, würde ihr Klimaschutzpotenzial als Einzelmaßnahme nicht ausreichen.

Die IAEA kommt hingegen zu dem Schluss, dass die Nuklearenergie für den Ausstieg aus der Kohle notwendig sei. Einem Bericht von 2021 zufolge würde der Ersatz von 20 Prozent der Kohleverstromung durch 250 Gigawatt Kernenergie die Emissionen um zwei Gigatonnen CO2 oder rund 15 Prozent der Emissionen des Stromsektors pro Jahr verringern. Die Kernenergie könne auch kohlebefeuerte Heizkessel für Fernwärme und die Industrie ersetzen.

APA

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