Bürger-Energiewende mit Strom vom Balkon

18. Jänner 2022

Das Start-up Solocal Energy engagiert sich für den Klimaschutz im Kleinen. Auch Mieter können die anschlussfertigen Minikraftwerke einsetzen.

Die meisten Vermieter lassen mit sich reden, wenn Solocal-Gründer Arvid Jasper bei ihnen anruft, um mit ihnen über eine Mini-Solaranlage bei ihren Mietern zu verhandeln. Schließlich kümmern er und sein Team sich um sämtliche Organisationsschritte. Doch es gibt auch Hauseigentümer, die ihre Fassade nicht „verschandelt“ sehen wollen. Hier prallen Weltbilder aufeinander. „Es geht ja gerade darum, dass die Energiewende sichtbar ist“, sagt Jasper.
Die Klimawende im Kleinen vorantreiben: Mit diesem Ziel hat Jasper Mitte 2020 gemeinsam mit Kerstin Lopau und Benedikt Breuer Solocal Energy gegründet – einen Verein mit wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb. Solocal Energy umfasst dabei drei Aktionsfelder: Mini-Solaranlagen für Balkone, Selbstbaugemeinschaften für größere Auf-Dach-Solaranlagen und Nachbarschaftskreise, die sich für derartige Energieprojekte engagieren.


Das Thema Photovoltaik hat derzeit großes Potenzial. Schließlich schreibt die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag: „Alle geeigneten Dachflächen sollen künftig für die Solarenergie genutzt werden.“ Bis 2030 soll die deutsche Photovoltaik-Leistung von derzeit 53 Gigawatt auf 200 Gigawatt ausgebaut werden.


Und die aktuellen Rekord-Strompreise tun ihr Übriges: Erst kürzlich erklärte der Vertriebsvorstand des Energieversorgers MVV Energie, für viele Unternehmen sei die Photovoltaik-Eigenproduktion derzeit günstiger als Strom aus der Steckdose.


Bei Solocal Energy dürfte der Strompreis-Effekt zwar erst noch kommen, denn viele Versorger kaufen den Strom Jahre im Voraus ein und konnten die Preise für ihre Kundschaft bislang halbwegs stabil halten. Doch die Idee von der eigenen Solarstrom-Produktion zieht trotzdem. „Wir sind im Team noch einmal gewachsen, weil es unglaublich viele Leute gibt, die uns die Bude einrennen“, sagt Jasper.


„Noch einmal gewachsen“ heißt: von drei auf vier. Solocal Energy ist kein Start-up mit Welteroberungsfantasien. Bis 2026 planen die Gründer mit gerade einmal zehn bis zwanzig Mitarbeitern. Wachsen soll hier vor allem die Idee, und zwar auf unkonventionelle Weise. „Wir sind mit anderen Solar-Selbstbauinitiativen vernetzt“, sagt Jasper. „Wir schieben uns gegenseitig Ressourcen und Kontakte zu. Dieser Ansatz von Kooperation statt Konkurrenz ist sehr prägend.“
Einen sechsstelligen Umsatz hat Solocal Energy in diesem Jahr aber schon erwirtschaftet – immerhin besetzen die Gründer mit ihrem Konzept so etwas wie eine Marktlücke. Sie verhelfen all jenen zur eigenen Solaranlage, die zwar etwas zur Energiewende beitragen wollen, es aber aus verschiedensten Gründen nicht ohne Weiteres können. Wer zur Miete wohnt und kein eigenes Dach besitzt, kann sich mit sogenannten Balkonkraftwerken behelfen. Das sind ein bis zwei einzelne Solarmodule, im Gegensatz zu großen Solaranlagen sind sie anschlussfertig. Das heißt, auch Laien können sie an den Haushaltsstrom anschließen. Montiert werden können sie am Balkon, aber auch auf Garagen, im Garten oder an der Hauswand.


Solocal Energy verkauft die Module inklusive Beratung und – wenn gewünscht – Installation. Kunden können sich dabei aussuchen, ob sie den ermäßigten Preis zahlen, der den Gründern nur einen Mindestlohn einbringt, den Normalpreis oder einen Solipreis. So kostet das Komplettpaket mit Installation normalerweise 1100 Euro, ermäßigt sind es 900 Euro und mit einem Zuschlag 1300 Euro. Das Solocal-Team kümmert sich dann um alles, was anfällt: Materialbeschaffung, technische Hürden, Kommunikation mit den Vermietern.

Gleichzeitig wollen die Gründer auch für Hausbesitzer Hindernisse abbauen. Deshalb bringen sie in den Selbstbaugemeinschaften jeweils sechs Parteien zusammen, die Solaranlagen auf ihren Dächern installieren wollen. Die kümmern sich dann gemeinsam um die Organisation, Finanzierung und auch den Aufbau der Anlagen. Der Vorteil: Rentablere Projekte finanzieren weniger rentable mit. Und da die Hausbesitzer die Anlage selbst montieren, sparen sie auch insgesamt Geld.


Die drei Ende-20-jährigen Gründer helfen mit Fachwissen. Kerstin Lopau und Benedikt Breuer sind studierte Ingenieure, Arvid Jasper hat eine Weiterbildung zur Elektro-Fachkraft gemacht. Solocal Energy ist ein eingetragener Handwerksbetrieb.


„In erster Linie sehen wir uns als Initialberater“, sagt Jasper. „Wir gucken uns an, welche Art der Energie-Innovation bei den Leuten sinnvoll ist.“ Die Beratungsgespräche sind ebenso wie die Nachbarschaftskreise für die Gründer, die keinerlei Werbung für Solocal machen, ein wichtiger Marketing-Faktor. Zunächst einmal verlangen sie für die Beratung jedoch keine Bezahlung. „Wir treten nicht an, um Geld zu verdienen, sondern um die Energiewende anzugehen“, erläutert Jasper.


Aber kann das wirklich gelingen? Gerade die Balkon-Solaranlagen produzieren mit einer maximalen Leistung von 600 Watt bei Weitem nicht genug Strom, um den Jahresbedarf einer einzelnen Person zu decken. Sie lohnen sich zwar nach Angaben der Verbraucherzentrale-Energieberatung langfristig finanziell – und das umso mehr, wenn der Strompreis steigt. Aber leisten sie auch einen nennenswerten Beitrag zur Energiewende?
Der Energie-Experte Hermann Laukamp vom Fraunhofer-Institut ISE hat das Potenzial von Balkonkraftwerken in einer Studie untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis: „Bei einer hohen Durchdringung von circa einem Zehntel des Wohnungsbestands kommt man auf eine Größenordnung von maximal einem Prozent Anteil am aktuellen deutschen Stromverbrauch.“


Hochgerechnet heißt das: Wenn sämtliche Wohnungen in Deutschland mit Mini-Solaranlagen ausgestattet wären, könnten die Module zehn Prozent des deutschen Strombedarfs decken – immerhin fast so viel, wie in 2021 aus der Atomkraft stammte.


Eine solche Quote liegt natürlich in weiter Ferne – selbst wenn die Zahl der installierten Balkonkraftwerke hierzulande Schätzungen von Branchenkennern wie der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie zufolge mehr als vier Mal so hoch sein könnte wie die offiziell im Marktstammdatenregister erfassten 25.000 Anlagen. Trotzdem hält Laukamp den Ansatz für sinnvoll: „Psychologisch sind Balkon-Solarmodule nicht zu unterschätzen, da so auch Mieter aktiv zur Energiewende beitragen können“, sagt er.


Einen ähnlichen Effekt beobachtet Solocal-Gründer Jasper auch bei den Selbstbaugemeinschaften. „Viele Projekte scheitern daran, dass den Leuten die Motivation fehlt, ihre Pläne auch umzusetzen“, sagt er. Seine Hoffnung: dass die neue Ampelregierung bürokratische Hürden abbaut und die Bürger-Energiewende so vorantreibt.


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