Es droht die grüne Inflation

24. Jänner 2022

Der Schutz des Klimas mit marktwirtschaftlichen Mitteln stellt in der Theorie kein Problem dar. In der Realität sind die Probleme jedoch immens.

Ein funktionierendes System flexibler Preise ist das Herzstück einer Marktwirtschaft. Das wusste bereits der Begründer der Volkswirtschaftslehre Adam Smith im 18. Jahrhundert. Wie von „unsichtbarer Hand“ gesteuert sorgen die Marktpreise dafür, dass knappe Güter effizient verteilt werden. Im Marktgleichgewicht befinden sich auf sämtlichen Märkten Angebot und Nachfrage im Einklang. Auf ein geringeres Angebot, etwa infolge von Missernten, reagiert der Markt mit Preiserhöhungen, die dazu führen, dass die Nachfrage zurückgeht. Im neuen Gleichgewicht ist also der Preis höher und die Nachfrage geringer als vorher.


Soziale Aspekte berücksichtigt ein freier Markt allerdings nicht. Menschen, die sich höhere Nahrungsmittelpreise nicht leisten können, müssen in einer freien Marktwirtschaft eben hungern, während Wohlhabende keine Probleme haben, ihren Lebensstandard aufrechtzuhalten. In einer Sozialen Marktwirtschaft wird dies durch eine Umverteilung von Einkommen verhindert.


So wie in früheren Jahrhunderten der Brotpreis ein Gradmesser für die (gefühlte) Teuerung war, sind dies heute die Energiepreise – und die explodieren derzeit förmlich. Laut Statistischem Bundesamt war Energie am Ende des Jahres 2021 um 22,1 Prozent teurer als zwölf Monate zuvor. Heizöl und Kraftstoffe kosteten gar rund 50 Prozent mehr. Die Preissteigerungen bei Strom, Gas und anderer Haushaltsenergie waren mit zwölf Prozent nur deshalb noch halbwegs moderat, weil viele Kunden Verträge mit Preisgarantie abgeschlossen hatten.


Die aktuellen Preissprünge haben verschiedene Gründe, etwa geopolitische Spannungen, steigende Preise für Emissionsrechte, ein Wiederanziehen der Weltkonjunktur, der Energiehunger großer Schwellenländer, die Rücknahme der befristeten Mehrwertsteuersenkung in Deutschland sowie die neue CO2 – Abgabe.


Einige dieser Faktoren sind sicherlich vorübergehender Natur, doch eins sollte klar sein: Wenn es die Politik mit dem Klimaschutz ernst meint und dabei auf marktwirtschaftliche Mechanismen setzt, dann muss aus fossilen Brennstoffen gewonnene Energie teurer werden – und zwar so kräftig, dass es zu deutlichen Verhaltensänderungen kommt. Ein Problem dabei ist, dass viele Menschen nicht in der Lage sind, rasch auf höhere Preise zu reagieren. In ländlichen Regionen sind viele Erwerbstätige auf das Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen. Und wer zur Miete wohnt, kann seine Wohnung nicht selbst isolieren oder eine sparsame Heizung einbauen.


Deshalb denkt die Politik in die entgegengesetzte Richtung: Sie will die Kraft des Marktes abschwächen. So fordert der – mutmaßlich eher auf seine Wiederwahl als auf Klimaschutz bedachte – bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eine „Preisbremse“ bei Energie. Die Pendlerpauschale sollte dynamisiert und die Mehrwertsteuer bei Erdgas, Erdwärme und Fernwärme „zumindest vorübergehend“ auf sieben Prozent gesenkt werden. „Wir müssen verhindern, dass aus den steigenden Energiepreisen und der Inflation eine Armutsfalle wird“, mahnte Söder im Gespräch mit dem Handelsblatt.


Menschen mit geringerem Einkommen sind stärker betroffen
Richtig an diesen Worten ist, dass steigende Energiepreise die Inflation treiben und dabei Menschen mit geringerem Einkommen stärker treffen als Gutverdiener. Marktwirtschaftlich organisierter Klimaschutz geht nämlich mit erheblichen Verteilungseffekten zulasten von Geringverdienern einher.


Deshalb ist es ein sozialstaatliches Gebot, Bedürftigen einen Zuschlag auf ihre staatliche Unterstützung zu zahlen, wie dies jetzt von der Bundesregierung beschlossen wurde. Richtig ist aber auch, dass, wenn vielen Betroffenen die Mehrkosten vom Staat erstattet werden, die erwünschten Anreize zum Energiesparen abnehmen.
Gäbe es einen weisen Klima-Diktator, der über vollständige Informationen verfügt und ohne Eigeninteressen ausschließlich die Nutzenmaximierung der Gesellschaft verfolgt, würde dieser dafür sorgen, dass aus fossilen Rohstoffen gewonnene Energie spürbar teurer wird und die soziale Abfederung so konzipiert wäre, dass die Preissignale dennoch wirken. Am ehesten wäre dies mit Pro-Kopf-Zahlungen möglich.


Sofern die Nachfrage nach Energie preissensibel ist, führen steigende relative Preise dazu, dass die Konsumenten weniger Energie und stattdessen mehr von anderen Gütern nachfragen; und Pro-Kopf-Erstattungen können verhindern, dass die Menschen ärmer werden. Nur wenn die Energienachfrage wenig preissensibel ist, geht auch dieses Kalkül nicht auf. Bleibt die Frage, wer den Umbau der Wirtschaft bezahlen soll.


Die erforderlichen privaten Investitionen sollte die Privatwirtschaft finanzieren, da diese sich durch höhere Erträge in der Zukunft bezahlt machen. Der Staat müsste für den grünen Umbau Kredite aufnehmen, deren Schuldendienst die künftigen Generationen zu leisten hätten. Denn sofern der grüne Umbau gelingt, wären sie die hauptsächlichen Nutznießer der künftig kostengünstigen Energie aus regenerativen Quellen sowie eines modernisierten Kapitalstocks und des stabilisierten Weltklimas. Eine Kreditfinanzierung von staatlichen Umweltinvestitionen wäre daher zu rechtfertigen, was auch vehemente Verfechter der Schuldenbremse einräumen müssten.


Doch selbst wenn dieser wohlmeinende Diktator alles richtig machen würde, liefe er Gefahr, mit der unabhängigen Notenbank in Konflikt zu geraten – steigende Energiepreise treiben nun einmal die Inflation. So deutete die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel jüngst an, dass steigende Energiepreise die Europäische Zentralbank zu einer Kurskorrektur zwingen könnten. Die Geldpolitik könne es sich nicht leisten, Energiepreiserhöhungen zu ignorieren, wenn diese ein Risiko für die mittelfristige Preisstabilität darstellten.


Dies könnte der Fall sein, wenn die teure Energie zur allgemeinen Erwartung einer höheren Inflation führen sollte oder wenn es durch eine kräftige Belebung der privatwirtschaftlichen Investitionstätigkeit zu einer gesamtwirtschaftlichen Überhitzung käme. Die EZB steht dabei vor einem Dilemma: Einerseits ist sie der Geldwertstabilität verpflichtet, anderseits kann es nicht ihre Aufgabe sein, die demokratisch legitimierte Politik zu torpedieren, die bewusst Energie verteuert.


Idealerweise müsste die Notenbank künftig zwei Inflationsraten berechnen: die tatsächlich von den Statistikämtern erhobene und eine um preissteigernde Dekarbonisierungseffekte bereinigte Rate. Da jedoch in nahezu allen Produkten Energie steckt, die bei Herstellung und Transport benötigt wird, wäre die Berechnung solch einer bereinigten Inflationsrate keineswegs trivial.


Fazit: Die Dekarbonisierung im Interesse des Weltklimas ist keineswegs nur ein technisches Problem, das in erster Linie mit Investitionen, Ingenieurskunst und Digitalisierung zu lösen ist. Politisch und gesellschaftlich brisant sind vielmehr die – in der Diskussion bislang verdrängten – enormen Verteilungswirkungen. Denn Inflation geht stets vorrangig zulasten der Bezieher niedriger Einkommen. Eine allein auf die Geldwertstabilität schauende unabhängige Notenbank würde den ökologischen Umbau konterkarieren.


Denn aus dem Teuerungsschub resultierende Zinsanhebungen würden die Investitionsneigung bremsen und so den ökologischen Umbau verlangsamen. Letztlich gilt es, politisch zu entscheiden: für ein stabiles Klima oder für stabile Preise. Beides gleichzeitig zu erreichen wird, vorsichtig formuliert, äußerst schwierig – vermutlich gar unmöglich sein.


ZITATE FAKTEN MEINUNGEN

Der Chefökonom Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats und Berater mehrerer Bundesregierungen sowie ausländischer Regierungen.


Mehr Analysen, Kommentare und Studien von Professor Rürup und seinem Team erhalten Sie auf der Webseite https: research. handelsblatt.com de

Von Bert Rürup und Axel Schrinner

Handelsblatt

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