Und wenn Putin abdreht?

24. Jänner 2022, Wien/Berlin

Krise. Österreich importiert rund 80 Prozent seines Erdgases aus Russland. Wie lang das Land im Ernstfall durchkommt, welche Alternativen es gibt und wer am Ende mehr leidet.

Wie es sich anfühlt, von Erdgas abhängig zu sein, bekommen viele Österreicher gerade am eigenen Leib zu spüren. Etliche Energieversorger stellen ihre Kunden vor die Wahl: Entweder sie bezahlen um ein Vielfaches mehr für ihr Gas — oder es gibt keines mehr. Genau diese Sorge treibt auch die Europäische Union im aktuellen Konflikt mit ihrem wichtigsten Lieferanten, Russland, um. Die drohende Eskalation in der Ukraine schickt die Gaspreise in Rekordhöhen.


Dazu kommt ein russischer Präsident, der offen mit der Option zu spielen scheint, die Lieferungen in den Westen einzustellen. Was passiert, wenn er damit Ernst macht? Wie lang kommt Europa ohne russisches Gas aus? „Die Presse“ beantwortet die wichtigsten Fragen.


1 Wie abhängig sind Österreich und die EU von russischem Gas?
Wladimir Putin weiß genau, dass die Energieversorgung Europas Achillesferse ist. Er regiert den mit Abstand wichtigsten Gaslieferanten des Kontinents. 2020 kamen 44 Prozent aller europäischen Gasimporte aus Russland, im ersten Halbjahr 2021 waren es sogar fast 47 Prozent. „Europa ist sehr verwundbar“, sagt Politologe Gerhard Mangott im Interview mit der „Presse“ — und daran wird sich so rasch nichts ändern lassen. Die europäischen Gasquellen versiegen, alternative Lieferanten können die Lücke nicht füllen. Und Europa ist trotz der geplanten Energiewende weg von fossilen Rohstoffen stark auf Erdgas angewiesen. Ohne Erdgas gibt es keine Industrie, keine sichere Stromversorgung und kalte Heizkörper.


Österreich ist noch abhängiger als der EU-Schnitt. Etwa 80 Prozent der heimischen Gasimporte werden von Moskau gedeckt, schätzt Herbert Lechner von der Österreichischen Energieagentur. Die Einfuhren sind vertraglich langfristig gesichert. Was das im Extremfall wert ist, will in Österreich lieber niemand so genau wissen.


2 Wie gut ist Österreich in diesem Winter auf Lieferausfälle vorbereitet?
Die Ausgangsposition der Europäer ist heuer schlechter als früheren Jahren. Der vergangene Winter war kalt, die Speicher sind vergleichsweise leer, der Druck aufgrund der heftigen Preissteigerungen enorm. Aktuell sind die Gasspeicher in Europa etwa zu 45 Prozent gefüllt, deutlich weniger als in vergangenen Jahren. In Österreich steht der Pegel nur bei knapp 28 Prozent. Das liegt auch daran, dass Gazprom seine eigenen Speicher im Land 2021 komplett geleert hat.


Reichen die Vorräte aus, wenn der Winter noch streng wird? Bricht die Temperatur im Februar ein oder fallen Lieferungen aus, könnte es eng werden, sagt Energieexperte Lechner. Aber nicht für die österreichischen Haushalte, versichert Carola Millgramm vom Energieregulator E-Control. Für diese reiche auch ein Speicherstand von zwanzig Prozent, um den Jahresbedarf abzudecken. Zudem müssen private Haushalte im Ernstfall bevorzugt beliefert werden. Anders sieht das für Industrie und Stromversorger aus, die ein Vielfaches an Gas benötigen. Ihre Gaslieferungen dürfen Versorger auch unterbrechen, woraufhin Betriebe ihre Produktion vorübergehend stilllegen müssten.


3 Auf welche alternativen Gaslieferanten kann Europa derzeit zählen?
Stellt der EU-Hauptlieferant, Russland, seine Erdgasexporte in Richtung Westen wirklich ein — etwa im Kriegsfall oder als Antwort auf härtere Sanktionen —, hat Europa nur wenig Optionen, sich zu wehren. Seit Jahren versucht Brüssel, neue Gaslieferanten für den Kontinent zu gewinnen. Doch der Plan, sich mehr Erdgas aus Turkmenistan, Aserbaidschan oder Nordafrika zu sichern, ging bisher nicht auf. Libyen und Algerien brauchen einen Gutteil ihres Gases selbst, Turkmenistan verkauft seines lieber an Peking. Nun scheiterte auch das vor zwei Jahren auf den Weg gebrachte Projekt der Gasleitung East-Med, mit der Griechenland, Zypern und Israel die Gasfelder im Mittelmeer an das EU-Netz anbinden wollten.


Etwas gestiegen sind die Flüssiggas-Importe aus Ländern wie Katar und Angola. Auch die US-Regierung überlegt, im Notfall mehr amerikanisches Flüssiggas mit Schiffen nach Europa zu schicken. Das könne eine gewisse Erleichterung bringen, sagt Gerhard Mangott. Einen kompletten Lieferstopp von Gazprom könnten die Amerikaner aber nicht kompensieren. Dazu kommt, dass Deutschland, das das für Österreich wichtigste Bindeglied für eine alternative Gasversorgung sein könnte, noch keinen einzigen Flüssiggas-Terminal gebaut hat, sondern sich stattdessen ganz auf die Nord-Stream-Leitungen verlassen hat.


4 Welche Rolle spielt Deutschland im Streit um das russische Gas?
Bevor Gerhard Schröder (SPD) Mitte der Nullerjahre das deutsche Bundeskanzleramt verließ, stellte er noch eine geopolitische Weiche: die Nord-Stream-Pipelines. Als dieses russisch-deutsche Prestigeprojekt entstand, wechselte der Ex-Kanzler in den Aufsichtsrat der Nord Stream AG, in Nord Stream 2 ist auch die österreichische OMV als Financier involviert. Viele europäische Länder sehen das Projekt kritisch.


Heute bezieht Deutschland die Hälfte seines Gases aus Russland, kein anderes Land der EU nimmt dem russischen Energiekonzern Gazprom in absoluten Zahlen mehr ab, die Nummer zwei ist Italien. Zwar wird Berlin auch über andere Pipelines und aus Europa versorgt, beispielsweise aus Norwegen. Aber die Gasfelder mancher Länder wie der Niederlande sollen stillgelegt werden. Zudem steckt Deutschland noch immer in der selbst verordneten Energiewende: Die letzten Atomkraftwerke werden dieses Jahr abgeschaltet, Kohleverstromungsanlagen sollen bald folgen. Der zu erwartende Leistungsabfall soll auch mit Gaskraftwerken kompensiert werden — zumindest vorübergehend. Kurz: Berlin könnte in den kommenden Jahren mehr Gas brauchen.


Um mehr Flüssiggas einzukaufen fehlen die Häfen. In der ganzen EU gibt es 25 geeignete Terminals, sie sind derzeit ausgelastet. Das alles heißt auch, dass die mächtigste Wirtschaftsnation der EU — und nebenbei der wichtigste Handelspartner Österreichs — auf absehbare Zeit von russischen Importen abhängig ist.


5 Aber würde ein Stopp der Gaslieferungen am Ende nicht auch Russland schaden?
Auch aus russischer Sicht wäre es rein wirtschaftlich besser, die Gaslieferungen in den Westen liefen weiter. Zwar ist Öl wichtiger, die angeschlagene russische Wirtschaft würde einen Lieferstopp aber schmerzhaft bemerken. In der Vergangenheit wurde dem Kreml immer wieder vorgeworfen, Energielieferungen als geostrategisches Druckmittel einzusetzen.


Für Februar hat die russische Gazprom laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters keine neuen Kapazitäten für die Pipeline Jamal gebucht. Sie führt über Belarus und Polen nach Deutschland.

von Matthias Auer und Christoph Zotter

Die Presse

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