Warum wir über Nord Stream 3, 4 oder 5 nachdenken sollten

11. Feber 2022

Für die kommenden Jahrzehnte müssen geopolitische Weichen gestellt werden. Der Streit ums russische Gas sollte Anlass zur Reflexion geben.

Es gibt Geschichten, in denen es mit Magie zu tun hat, einen Namen auszusprechen. Das Märchen vom Rumpelstilzchen ist so eine. In der „Harry Potter“-Reihe droht Ungemach, wenn der Name des Bösewichts Lord Voldemort fällt.

So gesehen hatte der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz (SPD), am Montagabend im Weißen Haus eine Mischung aus Rumpelstilzchen- und Voldemort-Moment. Er weigerte sich, einen Namen in den Mund zu nehmen, über den ganz Europa spricht: Nord Stream 2, eine Gas-Röhre, die durch das Meer von russischem auf deutschen Boden führt. Als ginge davon eine böse Magie aus.

Während neben ihm US-Präsident Joe Biden donnerte, das Projekt sei in der Sekunde gestorben, in der russische Soldaten über die ukrainische Grenze treten, wirkte der deutsche Bundeskanzler, als fürchte er, der russische Präsident, Wladimir Putin, könnte in einer Rauchwolke erscheinen und ihn in die Unterwelt zerren, sollte er es auch nur wagen, den Namen Nord Stream 2 auszusprechen.

Die Wortwahl des deutschen Bundeskanzlers ist nicht neu: Seit Wochen tanzt er auf leisen Sohlen um die Frage der Pipeline herum. Die wurde in einer Zeit ersonnen, in der in Kiew ein paar Politiker gegen die Nomenklatura aufbegehrten — und das Verhältnis zu Moskau neu geordnet wurde. In diesem Machtkampf spielten die Einnahmen aus dem Gashandel eine wichtige Rolle. Mit Nord Stream 1 und 2 ließ sich die Ukraine als Zwischenhändler für Gas umgehen. So konnten russische Konzerne weiterhin in die Europäische Union liefern — und hätten gleichzeitig die Möglichkeit, den Gashahn nach Kiew zuzudrehen, sollte es die politische Lage dort opportun scheinen lassen.
Schon als Nord Stream 2 nur ein Plan auf dem Papier war, musste für alle Beteiligten klar gewesen sein: Die Pipeline ist ein geopolitisches Projekt, mit dem sich Deutschland — aber auch Österreich — für viele Jahrzehnte enger an Russland binden wird.

Sicher, die Pipeline lässt sich rein wirtschaftlich betrachten. Auch wenn umstritten ist, ob mit ihr überhaupt noch Geld verdient werden kann. Nun ist die Röhre gebaut, das Geld ist gebunden — darunter auch das österreichische. Der teilstaatliche Konzern OMV hat 729 Millionen Euro investiert. Ob sie in Nord Stream 2 verrotten oder noch Gas fließt, kann niemand genau sagen. Kommen Strafmaßnahmen gegen Russland, könnten sie für Österreich schmerzhaft sein, sagte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) in Kiew.

Der Fall Nord Stream 2 lässt sich nutzen, um über die europäische Zukunft nachzudenken. Über Nord Stream 3, 4 oder 5, wenn man so will. Die geopolitischen Schlüsselprojekte der nächsten Jahrzehnte, auch wenn sie nicht so heißen werden.
Was in der Vergangenheit alles schieflief, wird in Deutschland gerade an einem Beispiel diskutiert: Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Der legte erst den Grundstein für die Nord-Stream-Leitungen. Dann verlor er eine Wahl — und trat nur Monate später in die Dienste der russischen Pipeline-Bauer ein. Sein bis heute andauerndes Engagement wirft schon länger die Frage auf: Wer profitiert von Nord Stream — die deutsche Bevölkerung oder Schröder?
In den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts müssen strategische Weichen gestellt werden. Auf die Russland-Krise folgt der Konflikt mit China. Wie lässt sich dabei der nächste Schröder, das nächste Nord Stream 2 verhindern?
Die Frage sollte auch die Österreicher beschäftigen, denen eine lange Liste an Politikern vorliegt, die zuerst einmal sich selbst dienten und dann erst dem Staat. Und deren Bundeskanzler vor zwei Wochen sagte, Nord Stream 2 sei eine „notwendige ressourcentechnische Einrichtung“. Er verstehe sich als „Brückenbauer“. Dass die Brücke von Moskau nach Wien führt und Kiew unter sich lässt, sagte er lieber nicht dazu.

Es wäre ein Anfang, nicht mehr so zu tun, als hätte das kleine Österreich so gar nichts mit der großen Weltpolitik zu tun, als wäre es eine Insel. Die Dinge lassen sich beim Namen nennen. Gefährlich ist das nur in Märchen.
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von Christoph Zotter

Die Presse