Rückkehr der Atomdebatte

15. März 2022

Was ist da los? Plötzlich soll die umstrittene Energie die Versorgung in Deutschland stabilisieren. bjÖrn hartmann
Seit 2011 ist das Ende der Atomkraft in Deutschland besiegelt. Jetzt verändert der Krieg Russlands mit der Ukraine Gewissheiten. Einige Politiker, vor allem aus CDU/CSU, setzen auf den Ausstieg vom Ausstieg. Wir beantworten die wichtigsten Fragen. Warum gibt es wieder eine Diskussion über Atomkraft in Deutschland?Der Ukraine-Krieg hat Deutschland gezeigt, wie abhängig es von russischem Gas und Öl sowie Kohle ist. Zudem steigen die hohen Energiepreise wegen des Konflikts weiter. Die Bundesregierung will deshalb die Energieversorgung möglichst zügig neu aufstellen und dafür alles prüfen. Dazu gehört der Bau von Flüssiggas-Terminals an der Nordsee und in der Elbmündung, was aber Zeit kostet. Dazu gehört, stärker auf Kohlekraftwerke zu setzen – die wollte Deutschland spätestens 2030 abschalten. Und dazu gehört, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Sie sollten Ende 2022 Geschichte sein.Wie viele Atomkraftwerke laufen in Deutschland?Drei AKW sind noch am Netz. Isar 2 in Bayern, betrieben von PreussenElektra, der Kraftwerkstochter des Energiekonzerns E.ON. Emsland in Niedersachsen, betrieben vom Energiekonzern RWE, und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Die Anlage gehört EnBW aus Karlsruhe. Alle drei Anlagen sollen nach dem Atomgesetz Ende 2022 vom Netz.Wie viel Strom liefern die Anlagen?2021 waren noch drei weitere Nuklearkraftwerke in Betrieb: Brokdorf (Schleswig-Holstein, E.ON), Grohnde (Niedersachsen, E.ON) und Grundremmingen C (Bayern, RWE). Die lieferten laut Fraunhofer-Institut rund 13,3 Prozent des Stromangebots.Können die Anlagen länger laufen?Rechtlich muss das der Bundestag entscheiden. Dafür muss das Atomausstiegsgesetz geändert werden. Was einfach klingt, ist kompliziert. So muss unter anderem geklärt werden, wer für den zusätzlich anfallenden Atommüll zahlt. Mit dem Ausstieg hatten die Kraftwerksbetreiber rund 24 Milliarden Euro in einen Fonds eingezahlt, der Zwischen- und Endlagerung bezahlt. Sind solche rechtlichen Fragen nicht geklärt, wird kein Betreiber seine Anlage länger laufen lassen.

Technisch lässt sich die Laufzeit verlängern. Dann allerdings müssen neue Brennstäbe beschafft werden. Sind die Betreiber der letzten drei Anlagen überhaupt bereit dazu?EnBW und E.ON würden mit der Bundesregierung darüber reden. Begeistert sind sie nicht. RWE hält sich bisher zurück und setzt wohl eher darauf, seine Braunkohlekraftwerke länger laufen zu lassen. Alle drei Konzerne haben mit Atomkraft abgeschlossen, konzentrieren sich auf völlig andere Geschäftsfelder. So setzt etwa EnBW auf erneuerbare Energien, E.ON auf Netze und Energielösungen für Kunden.Ende 2021 sind Brokdorf, Grohnde und Grundremmingen C stillgelegt worden. Lassen sie sich wieder ans Netz bringen?Theoretisch ist das möglich, wenn der Rückbau noch nicht begonnen hat. Aber: Die Betreiber haben sich seit mehr als zehn Jahren auf den Ausstieg vorbereitet. Entsprechend haben sie das Personal geplant. Nachwuchs fehlt, ältere Kollegen bereiten sich auf den Ruhestand vor. Um ein Kraftwerk zu fahren, sind Mitarbeiter mit besonderer atomrechtlicher Lizenz nötig. Eine solche Lizenz gilt immer nur für eine bestimmte Anlage.

Weil Brennelemente in der Regel drei bis vier Jahre genutzt werden, sind in den Kraftwerken, die gerade abgeschaltet wurden, auch recht wenige frische Elemente eingesetzt.Gibt es weitere Anlagen, die wieder hochgefahren werden könnten?Nein. Alle anderen stillgelegten AKW werden bereits zurückgebaut oder sind sicher eingeschlossen.Welche Vor- und Nachteile haben AKW?Der große Vorteil: Die Reaktoren stoßen kein Treibhausgas aus. Der große Nachteil: Sie erzeugen radioaktive Abfälle – abgesehen von der Sicherheit. Und die Endlagerfrage ist in Deutschland immer noch nicht gelöst.Wie wahrscheinlich sind Neubauten?Mit dem Krieg in der Ukraine ist einiges, was als unumstößlich galt, plötzlich doch wieder in der Diskussion. Dass neue AKW in Deutschland gebaut werden, gilt aber in der Branche immer noch als ausgeschlossen. Die Planung ist aufwendig, der Widerstand groß. Zudem sind die Kosten hoch und die Bauzeit schwer kalkulierbar. Private Investoren sind kaum zu finden, auch, weil sich Atomkraft wenig rechnet. Neue Anlagen wie Hinkley Point C in England werden nur gebaut, weil der Staat Abnahmemengen und (hohe) Preise garantiert. Oder Geld zuschießt. Für die USA hat die Bank Lazard errechnet, dass Energie aus Wind seit 2010, aus Solaranlagen seit 2012 günstiger ist als Atomenergie. Zudem verteuerte sich Atomstrom zwischen 2010 und 2020 um 33 Prozent, Solarenergie verbilligte sich um 90 Prozent, Windenergie um 70 Prozent. Wie viele AKW gibt es weltweit?Insgesamt liefen im Februar nach Zahlen des World Nuclear Industry Status Report (WNISR) 412 Reaktoren, 93 davon in den USA, gefolgt von Frankreich (56) und China (54). Gebaut werden demnach 54 Anlagen, 20 allein in China. Insgesamt liefern Atomkraftwerke 10,1 Prozent der weltweiten Strommenge.

Wie lange dauert der Bau eines Kraftwerks und was kostet dieser?Der WNISR kam für 2020 auf eine durchschnittliche Bauzeit von rund zehn Jahren. Mehr als 58 Prozent der Projekte verzögern sich im Schnitt um sieben Jahre. Frankreichs Prestigeprojekt Flamanville 3 sollte 2012 Strom liefern, neuer Termin ist 2023. Die Kosten stiegen von 3,4 Milliarden Euro auf 12,7 Milliarden Euro.

Salzburger Nachrichten

Ähnliche Artikel weiterlesen

Japans Atombehörde trifft Entscheidung zu Atomkraftwerk

26. Juli 2024, Tokio

TotalEnergies investiert in deutschen Batteriespeicher

24. Juli 2024, Wien

EU-Kommission nimmt belgische AKW-Pläne unter die Lupe

23. Juli 2024, Brüssel
Belgien setzt weiterhin auf Atomkraft
 - Antwerp, APA/AFP

Wiener Westbahnhof erhält PV-Anlage über den Bahnsteigen

22. Juli 2024, Wien
Klimaschutzministerin Gewessler und ÖBB-CFO Waldner setzen auf PV
 - Wien, APA/TOBIAS STEINMAURER