Energie: Kostenschock erhöht Armut

6. April 2022, London

Großbritannien: Am vergangenen Freitag sind die Gas- und Stromrechnungen um über 50 Prozent gestiegen. Für ärmere Briten beginnen damit kritische Zeiten. Die Regierung hilft kaum.

„Ich habe den Gasboiler schon vor langer Zeit abgestellt“, erzählte eine junge Frau namens Zara am vergangenen Freitag in einer Radio-Anrufsendung. „Wir benutzen stattdessen Bettflaschen.“ Fürs Frühstück reiche das Geld nicht, sagt die alleinerziehende Mutter unter Tränen, und abends esse sie, was ihre drei Kinder übrig lassen. „Mein ganzes Einkommen geht für Rechnungen drauf. Es wird jetzt richtig schlimm.“

Der Clip aus der Radiosendung ist fast 900.000 Mal angeschaut worden und hat im ganzen Land tiefe Betroffenheit ausgelöst — nicht zuletzt, weil Zara für Hunderttausende britische Familien spricht, die mit ähnlichen Problemen kämpfen: Sie haben schlichtweg nicht genügend Geld, um über die Runden zu kommen. Bald werden es viele mehr sein.

Preisanstieg über 50 Prozent

Am 1. April sind Strom und Gas in Großbritannien auf einen Schlag um 54 Prozent teurer geworden. Die jährliche Energierechnung wird damit im Durchschnitt um fast 700 Pfund ansteigen — auf knapp 2000 Pfund. Laut dem Thinktank Resolution Foundation wird das zur Konsequenz haben, dass sich die Zahl der Haushalte, die unter „Energiebelastung“ leiden, auf fünf Millionen verdoppeln wird; diese Notlage tritt definitionsgemäß ein, wenn ein Haushalt mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für Strom und Gas ausgibt.

Die steigenden Energiekosten tragen den größten Teil zu einer wachsenden Krise der Lebenshaltungskosten in Großbritannien bei. Aufgrund steigender Inflation — sie liegt derzeit bei 6,2 Prozent, der höchste Wert seit vierzig Jahren — werden sich auch die Lebensmittel verteuern, genauso wie grundlegende Güter des täglichen Bedarfs.
Wie die steigenden Energiekosten wird dies überproportional ärmere Haushalte treffen, die einen größeren Anteil ihres Einkommens für diese Produkte ausgeben. Zudem muss der Großteil der Bevölkerung im neuen Finanzjahr höhere Steuern zahlen. Die Sozialleistungen hingegen werden um gerade einmal 3,1 Prozent angehoben. Experten schätzen, dass im kommenden Jahr zusätzliche 1,3 Millionen Britinnen und Briten in die absolute Armut abstürzen werden. Sie werden bald die Wahl treffen müssen, ob sie lieber heizen oder essen — für beides könnte es nicht reichen.

Im Herbst der nächste Anstieg

Und bald könnte es noch dicker kommen. Weil sich die globale Energiekrise aufgrund des Ukraine-Kriegs weiter verschärft, ist zu erwarten, dass die Gas- und Strompreise im Oktober noch weiter steigen werden. Die Energie-Regulierungsbehörde Ofgem legt jedes halbe Jahr fest, wie hoch die maximale Rechnung sein darf, die die Energieanbieter ihren Kunden verrechnen. Laut den Berechnungen von Resolution Foundation könnten die jährlichen Kosten im Herbst auf 2500 Pfund pro Haushalt anspringen.

Großbritannien ist steigenden internationalen Gaspreisen besonders stark ausgesetzt, weil der Rohstoff für einen großen Teil der Energie gebraucht wird. Etwa 85 Prozent der Haushalte beispielsweise heizen mit Gasboilern.
In seinem Frühlingsstatement vor knapp zwei Wochen versprach Finanzminister Rishi Sunak Hilfe für „hart arbeitende Familien“. Aber sein Plan beschränkte sich auf einige kleinere fiskale Anpassungen, etwa die Deckelung der Benzinsteuer oder eine Erhöhung des Steuerfreibetrags für die staatliche Sozialversicherung; einen Rabatt für die Gemeindesteuer hatte er bereits im Februar angekündigt.

Aber viele Armutskampagnen halten Sunaks Pläne für völlig unzulänglich; für jene, die am meisten von der Krise betroffen sind, biete der Finanzminister „keine Sicherheit“, sagte Dave Innes von der Stiftung Joseph Rowntree Foundation. „Sie riskieren, in die Mittellosigkeit abzurutschen.“ So sieht es auch die Mehrheit der Bevölkerung: Laut einer Umfrage finden fast 70 Prozent der Britinnen und Briten, dass die versprochene Hilfe nicht ausreichen wird. Auch aus den eigenen Reihen ist Sunak unter Druck, mehr zu tun — es wird spekuliert, dass er in den kommenden Wochen weitere Maßnahmen ankündigen könnte, um die Armutskrise abzufedern.

Vom Spender zum Empfänger

Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass sich die Krise schnell verschlimmert. Ein Ratsabgeordneter in Liverpool sagte am Wochenende gegenüber der Presse, dass die lokale Lebensmitteltafel aufgrund hoher Nachfrage mittlerweile an sechs Tagen die Woche geöffnet ist, nicht mehr nur an vier. Allerdings würden weniger Lebensmittel gespendet: „Die Leute, die früher gespendet haben, brauchen jetzt selbst Hilfe“, sagte der Abgeordnete.

Zudem hätte die Tafel inzwischen Mühe, frische Kartoffeln, Kohl und Lauch loszuwerden. „Die Leute sagen: „Es kostet zu viel, sie zu kochen.'“

von unserem Korrespondenten Peter Stäuber

Die Presse

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