Ein lauter Weckruf für Europa

22. April 2022

Ausblick. Europa steht vor einem Wendepunkt. 2022 wird ein schwieriges Jahr, doch in der Krise stecken auch Chancen Gudrun Egger Erste Group

Anfang des Jahres 2022 hat es für Europa gut ausgesehen: Zwar gab es 2020 pandemiebedingt einen deutlichen Knick in der Wirtschaftsleistung der EU-Länder, doch schon 2021 setzte eine Erholung ein und das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone und der EU 27 lag wieder über dem Vorkrisenniveau. Auch die Prognosen zu Beginn des Jahres waren optimistisch. Mit dem Krieg in der Ukraine und den darauf folgenden Strafmaßnahmen gegen Russland hat sich die Situation nun völlig verändert. Gudrun Egger, Head of Major Markets & Credit Research der Erste Group: „Die Pandemie hat einen wirtschaftlichen Schock ausgelöst. Das Angebot und die Nachfrage waren gleichzeitig stark beeinträchtigt. Dann hat sich die Nachfrage schneller als das Angebot erholt und es ist zu temporären Lieferproblemen und Preisanstiegen gekommen, die sich aber früher oder später abgebaut hätten. Der Krieg hingegen hat die Karten neu gemischt. Wichtige Themen sind die Verfügbarkeit von Öl und Gas zu günstigen Preisen für Europa oder der Handel anderer Güter. Auch für den Tourismus ist Russland in einigen Teilen Europas sehr wichtig.“Wachstum bedrohtDoch der Krieg in der Ukraine ist eine echte Zäsur. Dieser Krieg bedroht nicht nur die globale Sicherheit und die gesamte Weltwirtschaft, sagt EU-Ratspräsident Charles Michel. Dieser Krieg in der Ukraine stellt auch unser Wirtschaftsmodell in Frage. Grund: Ein zentraler Stützpfeiler des europäischen Wirtschaftsmodells waren billige Energie und günstige Rohstoffe. Doch damit ist es nun vorbei und das bleibt schon jetzt nicht ohne Folgen. Angetrieben von massiv gestiegenen Energiepreisen infolge des Ukraine-Krieges markiert die Inflation im Euroraum ein neues Rekordhoch. Dienstleistungen und Waren kosteten im März durchschnittlich 7,5 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Ökonomen hatten lediglich mit einem Wert von 6,6 Prozent gerechnet nach 5,9 Prozent im Februar. Egger: „Der vor dem Krieg bestehende Preisdruck, resultierend aus den Verwerfungen im Verlauf der Pandemie, wird durch den Krieg verschärft und betrifft breite Gütergruppen. Höhere Mieten, Energiepreise und steigende Nahrungsmittelpreise werden in weiterer Folge den Konsum dämpfen. Zusätzlich belastet die Verschärfung der Lieferkettenprobleme den produzierenden Bereich und damit auch Investitionen. Je länger der Krieg bzw. die Kriegsfolgen und Sanktionen dauern, umso mehr wird auch die europäische Wirtschaft leiden.“Noch optimistischTrotz aller Unbill der vergangenen Monate ist die Stimmung der Unternehmen noch gut. Jahresbilanzen sind bei vielen Unternehmen besser als erwartet ausgefallen und auch die Aktienkurse vieler Unternehmen sind 2021 ausgezeichnet gelaufen. Noch hoffen alle auf ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine und sind zweckoptimistisch. Doch die Folgen sind unvermeidbar. Egger: „Das volle Ausmaß der negativen Auswirkungen wird sich voraussichtlich erst im Zeitablauf zeigen. Manche Unternehmen haben ihre Energiepreise noch für einige Zeit abgesichert. Unklar ist derzeit auch, wie sich die Verfügbarkeit und Preise mancher Rohstoffe und Zwischengüter entwickeln werden. In eine global abgestimmte just-in-time Produktion ist Sand ins Getriebe gekommen. Durch die Unsicherheit kommt es derzeit zu unüblich hohem Lageraufbau durch große Marktteilnehmer, was das Gesamtgefüge vorübergehend noch mehr stören kann.“

Energetischer Umbau

Mehr als 40 Prozent des in die EU importierten Gases kommt aus Russland. In Österreich ist die Abhängigkeit sogar noch deutlich größer. Rund 80 Prozent des hierzulande verbrauchten Gases kommt aus Russland. Es ist also höchst an der Zeit die Energiewende voranzutreiben. Egger: „Die derzeitige Krise könnte die Transformation in Richtung mehr Nachhaltigkeit beschleunigen. Neben dem Thema Versorgungssicherheit geht es um eine gemeinsame Energiepolitik in Europa. Investitionen in erneuerbare Energien und entsprechende Ersatzkapazitäten bzw. den Netzausbau sind essenziell. Möglicherweise überschätzen wir zwar kurzfristig die technischen Möglichkeiten, aber mittel- bis langfristig könnte der technologische Fortschritt hier positiv überraschen. Darüber hinaus könnte der europäische Gedanke und Zusammenhalt in der Zukunft noch stärker gelebt werden.“ Die EU-Kommission plant bereits einen „Pakt für erneuerbare Energien“, um den Ausbau von Solarenergie, Windkraft, Wasserstoffinfrastruktur sowie Wärmepumpen weiter anzukurbeln.

Europäische Werte

Doch Europa hat in den vergangenen Jahren nicht nur bei der Energiepolitik geschludert, sondern auch der Zusammenhalt der europäischen Staaten war brüchig. Egger: „Die Werte und Ziele der Europäischen Union machen Europa zu einem attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum. Die zentralen Versprechen von Friede, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand müssen weiter erfüllt werden.“ Die letzten Krisen haben gezeigt, welche Erfolge möglich sind, wenn die Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen im Sinne der Geschlossenheit und Solidarität zusammenarbeiten. Auch wenn kurz- und mittelfristig mit höheren Energiepreisen zu rechnen ist, kann eine gemeinsame und nachhaltige Energiepolitik Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgehen lassen.„Die Werte und Ziele der EU machen Europa zu einem attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum. Die zentralen Versprechen müssen aber erfüllt werden“Gudrun Egger Erste Group

Kurier

Ähnliche Artikel weiterlesen

EU bleibt auch nach 2027 von Russlands Öl und Gas abhängig

12. Dezember 2022, Russland

China will „nicht wie Europa sein“

16. November 2022

Ist die Angst vor dem Blackout übertrieben?

12. Oktober 2022

„Spanien war die schlechteste aller Welten“

20. September 2022
Minus bei Energieverbrauch - Neukirchen-Vluyn, APA/dpa