Gas: Volle Speicher reichen nicht

27. Mai 2022, Wien

Energie. Komme kein Gas mehr, drohe Österreich ein Produktionseinbruch wie in der ersten Coronawelle, sagen Forscher. Die Regierung müsse rasch handeln — und auf Hilfe der EU bauen.

Gute Nachrichten: Langsam, aber doch nimmt die eiserne Gasreserve des Landes Gestalt an. Die Bundesregierung habe um 958 Millionen Euro die ersten 7,7 Terawattstunden (TWh) Erdgas für die strategische Reserve aufgekauft, vermeldete das Klima- und Energieministerium am Dienstag. Damit kommt Österreich immerhin über einen kalten Wintermonat. In Summe will der Staat 20 TWh Gas selbst einlagern, mithilfe der Versorger sollen die Gasspeicher im Herbst zu 80 Prozent gefüllt sein. Vergangene Woche verfügte die Koalition zudem, dass der Gasspeicher Haidach, der bisher nur Deutschland versorgt hatte, auch an das österreichische Netz angebunden werden soll. Die Vorbereitungen für den Ernstfall eines Stopps russischer Gaslieferungen laufen also.

Aber all das sei nicht genug, warnen die Forscher des Complexity Science Hub Vienna (CSH), die zuletzt in der Coronapandemie viel an Aufmerksamkeit gewonnen haben. Sie haben sich angesehen, wie das Land und seine Industrie im Detail betroffen wären, wenn plötzlich kein Gas mehr aus Russland käme — und wie sich die Regierung heute schon idealerweise auf dieses Szenario vorbereiten sollte. „Ohne geeignete Gegenmaßnahmen drohen substanzielle wirtschaftliche Schäden“, warnt CSH-Leiter Stefan Thurner. Auf gut gefüllten Gasspeichern darf sich Österreich jedenfalls nicht ausruhen. Im Ernstfall könnte es die bessere Wahl sein, das gebunkerte Gas mit dem Rest der EU zu teilen.

Modelliert haben die Komplexitätsforscher einen Stopp russischer Gaslieferungen ab Juni. Österreich kämen schlagartig 80 Prozent seiner Gasimporte abhanden, Haushalte und Stromversorger wären zwar noch versorgt, die Industrie aber käme rasch in Bedrängnis. Die betroffenen Unternehmen würden mehr als fünf Milliarden Euro an Bruttoproduktion im Monat verlieren. „Das ist in etwa dieselbe Größenordnung wie in der ersten Coronawelle“, so Thurner. Alle Überlegungen, wie die restlichen Mengen am besten auf die Branchen verteilt werden sollten, seien in seinen Augen zweitrangig. Entscheidend sei vielmehr, dass die Politik schon jetzt gegensteuere, um den möglichen Gasschock so klein wie möglich zu halten.

Damit dies glückt, müssten alle EU-Staaten entschlossener und solidarischer handeln als bisher. Im optimistischsten Szenario gehen die Forscher davon aus, dass die EU-Mitglieder einander beistehen, gemeinsam 55,7 Prozent des gesamten Bedarfs über alternative Lieferanten (Algerien, Aserbaidschan, Norwegen und LNG) abdecken und fair verteilen würden. Auch jene Länder, die gar nicht vom Importstopp betroffen wären, müssten ihren Verbrauch um ein knappes Fünftel reduzieren, um stark abhängige Staaten wie Österreich über Wasser zu halten.

Im Gegenzug müsste die Republik den übrigen EU-Staaten Zugang zu ihren Gasspeichern gewähren. Unterm Strich verlöre die heimische Industrie in dem Szenario nur 10,4 Prozent ihrer üblichen Gasmengen, die Produktion wäre um verschmerzbare 1,9 Prozent niedriger als ohne Gasembargo.

Strom aus Öl statt Gas

Aber dass es so kommt, ist in der Europäischen Union alles andere als ausgemacht. Energiepolitik ist in der EU immer noch Sache der Nationalstaaten, Konfliktpotenzial gäbe es im Krisenfall mehr als genug. Der Kontinent wäre etwa darauf angewiesen, dass Großbritannien LNG-Lieferungen weiterleitet und Gasimporte aus Algerien großräumig nach Italien umgeleitet werden könnten, um bestehende Pipeline-Engpässe zu umgehen, sagt Mitautor Anton Pichler.

Gewinnen hingegen die nationalen Egoismen, sieht die Lage bedeutend schlechter aus. Beansprucht etwa Österreich das gesamte Gas in den heimischen Speichern für sich, also etwa auch die Mengen, die im Speicher Haidach lagern, könnte Deutschland verleitet sein, LNG-Importe für sich zu behalten. Allein könnte Österreich nur 28,4 Prozent des Gasbedarfs von alternativen Lieferanten zukaufen und 15 Prozent des Gasverbrauchs aus eigenen Speichern decken.

Den größten Hebel im eigenen Land sehen die Autoren kurzfristig in der Umrüstung bestehender Gaskraftwerke auf den Betrieb mit Erdöl, die weitere 15 Prozent brächte. „Es ist schwer anzuraten, über den Sommer einen Brennstoffwechsel bei Gaskraftwerken vorzubereiten“, betont Thurner. Und das trotz aller Umweltbedenken. Es sei auch höchste Zeit, die Bevölkerung stärker zum Energiesparen zu motivieren. Kürzer duschen, weniger heizen. All das senke den Verbrauch und lindere eine mögliche Wirtschaftskrise.

Auf sich gestellt bliebe Österreich eine Gas-Versorgungslücke von 36,6 Prozent. Die Industrie könnte nur 46,7 Prozent der üblichen Gasmengen nutzen, die Produktion bräche um 9,1 Prozent ein.

von Matthias Auer

Die Presse

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