Die Wirtschaft tobt über Leonore Gewessler

8. Juni 2022

Energieversorgung. Mit der Energiekrise eskaliert es zwischen Wirtschaft und Energieministerin Leonore Gewessler gewaltig. Die Unternehmen fühlen sich von der Grünen ignoriert — und sind von der „Wirtschaftspartei“ ÖVP enttäuscht.

Das Papier ging am vergangenen Freitag auf diskreten Wegen an einige ausgewählte Medien. Ein geheimes Papier aus der Industriellenvereinigung — allemal eine Story wert. „Industrielle wollen wegen Krise Klimaentscheidungen aussetzen“, titelte eine Zeitung, „Industriellenvereinigung bremst bei Klimaschutz“, eine andere. Aufgebrachte Umweltorganisationen kamen in allen Berichten ausführlich zu Wort. Jetzt stellt sich für so manche die Frage, ob das Timing gar so zufällig war — immerhin war IV-Präsident Georg Knill am Sonntagabend zur ORF-Sendung „Im Zentrum“ eingeladen. Und dort ging es um die Ungewissheit im Land angesichts der Abhängigkeit von russischem Gas. Zufall oder auch nicht, allein der Argwohn zeigt recht deutlich: Mit der Energiekrise eskaliert die Stimmung zwischen Wirtschaft und Grünen ganz gewaltig.

In der Industriellenvereinigung ist man angesichts der Aufregung, die das Papier verursacht hat, einigermaßen überrascht. Es sei ein internes Argumentarium, heißt es, das den Mitgliedern des Bundesvorstands zur Verfügung gestellt worden sei. Und von geheim könne keine Rede sein: Vor zwei Monaten habe die Industriellenvereinigung in Tageszeitungen einen offenen Brief an Energieministerin Leonore Gewessler veröffentlicht, der einen ähnlichen Inhalt wie das „Geheimpapier“ hatte: nämlich die Forderung, die „falsch umgesetzte Dekarbonisierung“ zu stoppen. Und: „Anstehende Gesetzesvorhaben dürfen nicht zu einer weiteren Belastungslawine für unsere Industrie werden.“ Es brauche „ein sofortiges Aussetzen sämtlicher Beschlüsse“, die den Standort unter Druck setzen würden.

Viel Lärm um nichts also? Keineswegs. Die Episode zeigt vielmehr, dass die Nerven gerade ziemlich angespannt sind. Die Industrieunternehmen sehen in der Energiekrise eine existenzielle Bedrohung und fürchten weitere klimapolitische Belastungen. Die Grünen wiederum empört die Aussicht, dass Maßnahmen zur Energiewende aufgeweicht werden könnten. Also eine Pattsituation. Um die Dialogbereitschaft ist es nicht gerade zum Besten bestellt. Eigentlich ist sie nicht existent.

Und da kommt das Energieministerium der grünen Leonore Gewessler ins Spiel. Für die Sorgen der Wirtschaft scheint sie nicht unbedingt ein offenes Ohr zu haben. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar wurde zwar alsbald ein Treffen der Sozialpartner mit ihr vereinbart. Es wurde freilich zweimal verschoben. Stattgefunden hat es schließlich am 20. April, also fast zwei Monate nach Kriegsbeginn. Und auch dieses Treffen, das rund eineinhalb Stunden dauerte, war für die Sozialpartnerspitzen eine herbe Enttäuschung. Beziehungsweise ein einziges Ärgernis: Seitens des Ministeriums wurden zwei Powerpoint-Präsentationen gezeigt — in der einen ging es um das Gasnetz, in der anderen um die heimischen Speicherstände. Das war’s.

Die anwesenden Sozialpartner waren außer sich. Man begehrte Auskunft über die größten Gasverbraucher. Man begehrte Simulationsmodelle. Szenarien also darüber, wie sich Lieferausfälle in unterschiedlichen Prozentsätzen auf diverse Unternehmen und die via Fernwärme betroffenen Privathaushalte auswirken würden. Berechnungen, worauf man sich — je nach Jahreszeit — einzustellen habe. Komplexe Details also — die Antwort war freilich recht simpel: Sie wurde verweigert.

Immer noch. Für die Unternehmen ist das eher unbefriedigend, um es milde zu formulieren. Für die Arbeitnehmervertreter übrigens auch, Betriebsräte in diversen Konzernen sind schon einigermaßen unrund: Keiner weiß, worauf man sich einstellen muss, Planungssicherheit sieht anders aus. „Es gibt berechtigtes Interesse seitens der Bevölkerung“, sagt etwa Wirtschaftskammerchef Harald Mahrer, „man muss den Menschen reinen Wein einschenken.“ Derzeit weiß jedenfalls keiner, was im tatsächlichen Ernstfall — also bei einem russischen Gaslieferstopp — passieren wird.

Und niemand weiß, wie die Abhängigkeit abgebaut werden könnte. Am Donnerstag präsentierte Gewessler mit Wirtschaftsminister Martin Kocher zwar eine sogenannte Wasserstoffstrategie. Aber die Novelle zum UVP-Gesetz, mit der der Ausbau erneuerbarer Energie rascher möglich sein soll, stockt. Der von den Industriellen im offenen Brief geforderte Transformationsfonds, mit dem Unternehmen beim Ausstieg aus fossiler Energie unterstützt werden sollen? Fehlanzeige. „Wie soll sich das alles ausgehen?“, lautet die allerorts bang gestellte Frage.

Die Grünen pochen bloß auf dem Plan, sich bis 2027 weitgehend von russischem Gas lösen zu wollen. Das Wie bleibt diffus. „Man tut sich schwer, die Machbarkeit zu erkennen“, ärgert sich Siemens-Chef Wolfgang Hesoun. Gern wird in dem Zusammenhang auf Deutschland verwiesen. Dort gibt es angesichts der Krise regelmäßige Treffen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden mit dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck. Und sein Ministerium veröffentlicht auch regelmäßig sogenannte Fortschrittsberichte zum Thema Energiesicherheit. Fein untergliedert in Kapitel wie „Was seit Beginn des Kriegs bereits geschehen ist“, oder „Wo wir aktuell stehen“. Der jüngste Bericht dieser Art datiert mit 1. Mai und trägt den Titel: „Deutschland reduziert Energieabhängigkeit von Russland in hohem Tempo“.

Kein Wunder, dass Wirtschaftstreibende hierzulande schön langsam unrund werden. Mit Kritik an der Regierung halten sich Konzernbosse üblicherweise tunlichst zurück, aber mittlerweile wagen sich schon die ersten aus der Deckung. Voest-Chef Herbert Eibensteiner etwa meinte vor wenigen Tagen vor Journalisten: „Es ist höchste Zeit, in die Gänge zu kommen.“ Und: „Wir brauchen ein Gesamtkonzept für die langfristige Versorgung mit Strom und Wasserstoff.“ Man sei ja durchaus willens, die Energiewende mitzutragen, aber Konzepte und Beschlüsse der Regierung würden schlicht und einfach fehlen.

Was er nicht explizit sagte, klang freilich durch — und wird von vielen Wirtschaftstreibenden hinter vorgehaltener Hand auch so artikuliert: nämlich die maximale Enttäuschung über den Regierungspartner der Grünen, die „Wirtschaftspartei“ ÖVP. Da gärt es gewaltig, selbst unter hochrangigen Parteifreunden. „Die ÖVP lässt sich aus Angst vor einem Platzen der Regierung zu viel von den Grünen gefallen“, schimpft einer. „Mit der geballten Faust in der Hosentasche zuzusehen bringt uns nicht weiter“, ein anderer. Reihum wird eine härtere Gangart gegenüber dem Koalitionspartner gefordert. So manch einer verweist da neidvoll auf den Umgang der SPÖ Wien mit den Grünen — Stichwort: Stadtstraße und Lobau-Tunnel.

Gut, die SPÖ bildet in Wien keine Koalition mehr mit den Grünen. Aber gerade das Thema Lobau-Tunnel wird unter Wirtschaftstreibenden gern herangezogen, um die höchst machtbewusste Politik Leonore Gewesslers zu veranschaulichen: Im Dezember segnete der Aufsichtsrat des zu Gewessler ressortierenden Straßenbaukonzerns Asfinag zwar den Baustopp für den Tunnel ab. Doch es gab in dem Gremium kritische Stimmen und aktienrechtliche Bedenken — unter anderem von Michael Höllerer, Chef der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien. Vor wenigen Tagen wurde er kurzerhand aus dem Gremium entfernt.

Proteste seitens der ÖVP wurden nicht vernommen, sie lässt Gewessler gewähren. Auch bei ihrer Verschwiegenheit punkto Energiesicherheit. Sei es aus politisch-pragmatischen Gründen, sei es aufgrund fehlenden wirtschaftlichen Backgrounds. Sogar in hohen ÖVP-Kreisen wird kopfschüttelnd darauf hingewiesen, dass sowohl Kanzler Karl Nehammer als auch ÖVP-Klubchef August Wöginger vom ÖAAB kommen — und möglicherweise die wirtschaftspolitische Sprengkraft des gegenwärtigen Nichthandelns nicht ganz erkennen würden. In der Partei sehen viele die für 1. Juli geplante Einführung einer CO2-Steuer als die nächste große Bewährungsprobe für die ÖVP.

Energiepolitisch ist Nehammer vor einem Monat aufgefallen. Da dachte er laut über die Gewinnabschöpfung beim börsenotierten Stromkonzern Verbund nach.

Die Presse

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