Komm, guter Staat

15. Juli 2022

Die Energiepreise steigen horrend. Ein staatlicher Preisdeckel soll es richten, fordern viele. Doch was kann ein solcher leisten? Und vor allem: für wen?

Für Walter Mayer* kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 1. Mai nachhause, in seine 38 Quadratmeter kleine Wohnung in Krems. An diesem Tag erhöhte der niederösterreichische Energieversorger EVN seinen Strompreis um 62 Euro pro Monat. Jetzt zahlt der Mindestsicherungsbezieher 173 Euro dafür, dass er Warmwasser hat.
Seit Monaten steigen die Preise für fossile Rohstoffe, für Erdöl und vor allem für Erdgas in aberwitzige Höhen. Am 7. Juli notierte der als richtungsweisend geltende Terminkontrakt TTF an der Energiebörse in den Niederlanden bei 183,2 Euro je Megawattstunde. Vor einem Jahr noch haben Großhändler 20 Euro gezahlt. In Deutschland rechnet der Branchenverband der Vermieter für das Jahr 2022 mit bis zu 5000 Euro Mehrkosten für einen Vierpersonenhaushalt. Die Zahlen lassen sich auf Österreich umlegen. Und am 1.1.2023 beginnt zwar ein neues Jahr, aber wir stecken immer noch mitten in der Heizsaison. 2023 schaut es nicht besser aus.

969 Euro kann Herr Mayer im Monat ausgeben. Der 62-Jährige ist froh, dass er vor kurzem mit dem Rauchen aufgehört hat. Froh, dass er einmal Koch gelernt hat und mit Lebensmitteln umgehen kann. Er kocht nicht mehr jeden Tag, um Strom zu sparen, friert ein. Fleisch war einmal sein Gemüse. Aber das geht sich jetzt auch nicht mehr oft aus. Und damit ist er nicht allein. Laut einer Studie des Sozialministeriums können sich 1,7 Millionen Menschen in Österreich unerwartete Ausgaben von 1300 Euro nicht leisten, etwa die Reparatur des Autos oder einen Kühlschrank mit Gefrierfach.

Die Erhebung wäre schon in Friedenszeiten erschreckend. Jetzt fürchtet Herr Mayer den Winter. Wenn Russland Europa das Gas als Antwort auf sechs Sanktionspakete der EU ganz kappen sollte, dann könnte die Inflation auf 18 Prozent steigen, rechnet der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, vor. Dann kämen nicht nur Menschen wie Herr Mayer, sondern auch die klassische Mittelschicht, die Akademiker und Handwerker, in die Bredouille. Sozialminister Johannes Rauch von den Grünen spricht schon von Unruhen. „Wenn uns die Krise um die Ohren fliegt, also wenn ein Drittel des Mittelstandes nicht weiß, wie es die Miete zahlen soll, dann sind die Leute auf der Straße“, sagte er kürzlich auf einer Veranstaltung von Kurier, Profil und der Kronen Zeitung.
Wer kann dem noch etwas entgegensetzen? Es mehren sich Stimmen, die nur noch einen ausmachen: den Staat. Er solle Höchstpreise für Energie festsetzen. Preisdeckel müssen her!

Das fordern mittlerweile nicht mehr nur die Sozialdemokraten, die sich traditionell mit einem starken Staat leichter tun, sondern auch gestandene Konservative wie die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, die eigentliche Befehlshaberin in der ÖVP. An ihrer Seite: der Landeshauptmann von Oberösterreich, Thomas Stelzer, und der neue in der Steiermark, Christopher Drexler. Selbst Stefan Pierer, Chef der mächtigen oberösterreichischen Industriellenvereinigung und linker Umtriebe völlig unverdächtig, will den Deckel. Es ist eine kleine Revolution.
Ausgerechnet die ÖVP, für die das Prinzip des schlanken Staates Leitstern war, ruft ihn nun herbei. Nur Kanzler Karl Nehammer sträubt sich noch. „Viele Staaten haben sich dazu entschlossen, Preisdeckel in der Teuerungswelle einzusetzen. Bisher hat sich das nicht als probates Mittel erwiesen“, sagte er in der letzten Sitzung des Nationalrats vor der Sommerpause. Nur gibt er in der ÖVP nicht den Ton an.

Was aber kann ein Preisdeckel wirklich bewirken? Ist er nur eine „populistische Story“, wie Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) glaubte, eine Trivia gegen die Komplexität des Energiesystems, und nicht treffsicher noch dazu? Oder ist der Preisdeckel die letzte Rettung für die Mittelschicht und damit für die Demokratie? Und haben nicht auch die Klimaschützer einen Punkt, wenn sie einwerfen, ja die Energiepreise nicht zu kürzen, der Lenkungswirkung wegen?

Preisdeckel sind nichts Neues. Schon die Gesetzestafel des mesopotamischen Königs Hammurabi kannte Preiskontrollen, der römische Kaiser Diokletian wollte alle Grundnahrungsmittel deckeln. Ebenso die Freiheitskämpfer in der Französischen Revolution. Die USA froren Lebensmittelpreise im Ersten Weltkrieg ein. Noch 2017 beschloss die britische Regierung Preiskontrollen auf Energie. Das hat man nur vergessen. „Die Wirtschafts-und Ideengeschichte wurde in den letzten Jahrzehnten in der Wirtschaftswissenschaft an den Rand gedrängt. Das verengt den Blickwinkel“, sagt die deutsche Ökonomin Isabella Weber, die sich schon im Dezember für Preiskontrollen eingesetzt hatte.
Denn 40 Jahre der Doktrin des freien Marktes haben die Idee eines so drastischen Eingriffes in das Marktgeschehen in den Keller verräumt. Der Staat war lange vor allem eines: pfui. Erst die Covid-Krise und dann der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, haben seine Rolle neu definiert. Doch wie diese umsetzen? Unter dem Stichwort „Preisdeckel“ versteht jeder etwas anderes. Das fängt damit an, dass unklar ist, was eigentlich gedeckelt werden soll. Die Kosten für Privatkunden oder auch die für die Industrie? Gas? Oder Strom?

Die hohen Gaspreise wirken sich derzeit direkt auf den Strompreis aus, egal aus welcher Energiequelle Strom bezogen wird. Das liegt an der Merit-Order, jenem System, das den europäischen Strompreis festlegt. Was zählt, ist das letzte Kraftwerk, das gebraucht wird, um die notwendige Strommenge zu produzieren. Es bestimmt den Preis für alle anderen Produzenten.

Dieses Modell müsste die Regierung per Verordnung aushebeln, um die Großhandelspreise für Strom zu drücken. Nur: Das geht so einfach nicht. So würden die Stromhändler ihr Gut dann an die Nachbarländer verkaufen. Um überhaupt einen Effekt zu haben, müsste die Regierung sich also mit den anderen EU-Ländern zusammentun. Der Strommarkt funktioniert in der EU überall nach denselben Regeln. Eng verzahnt und liberalisiert. Einfach ausscheren? Das geht nicht. Ganz abgesehen davon, dass in diesem Fall das Grundübel, dass Europa Milliarden an Euro für überteuerte Rohstoffe an das russische Regime überweist, weiterbestünde.

Also müsste man vorher in der Kette ansetzen. Der Ökonom Gabriel Felbermayr hat die Idee eines Käuferkartelles in den Ring geworfen: Was, wenn die europäischen Staaten gemeinsam das Gas in Russland bestellten und zwar zu einem von ihnen festgesetzten Preis? Das würde die Verhandlungsmacht auf die Seite der Europäer bringen. Russland kann sein Erdgas de facto nur an Europa verkaufen, weil es für den Transport eine Pipeline braucht.
Der Vorteil des Käuferkartells: Sinkt so der Gaspreis, schrumpft auch im bestehenden Merit-Order-System der Strompreis, da die Gaskraftwerke dann zu einem niedrigen Preis einsteigen würden. Das Risiko: Russland müsste auf den Deal eingehen, wenn es das eigene Gas nicht an den Förderstellen abfackeln will.
Österreich müsste also auf eine europäische Lösung hoffen. Den europäischen Gaspreis selbst kann Österreich nicht beeinflussen. „Einen Gaspreisdeckel im Alleingang per Verordnung einzuführen, das ist rechtlich möglich“, sagt Universitätsprofessor und Energieexperte Stefan Storr von der WU-Wien: Dann aber müsste der Staat die Differenz begleichen, um den europäischen Gasmarkt nicht zu verzerren.

Spanien und Portugal tun sich leichter, denn sie sind kaum an den europäischen Energiemarkt angeschlossen. Sie haben den Gaspreis für private Verbraucher Ende April behördlich gesenkt. Die iberische Erkenntnis ist trotzdem mager: Nun laufen die Gaskraftwerke dort in Vollleistung, und das Gas wird erst recht knapp, die Steuerzahler müssen die Kraftwerke stützen. Einen sorgsamen Verbrauch? Kann man vergessen.

Ein Preisdeckel hat zwei Eigenschaften nicht: treffsicher und lenkend. Ersteres ist ein soziales Problem, weil auch Menschen weniger bezahlen müssten, die es sich noch leisten könnten. Zweiteres ist aus klimapolitischen und sicherheitspolitischen Gründen heikel: Wir müssen weniger fossile Brennstoffe verbrennen, wenn wir die Klimaziele einhalten sollen. Und wir sollten weniger russisches Gas verbrennen, wenn wir unabhängig werden wollen.
Geht das beides? Den Menschen unter die Arme greifen und ihre Motivation zum Sparen nicht abwürgen? Ja, sagen die deutsche Ökonomin Isabella Weber und Wifo-Chef Felbermayr. Sie haben unabhängig voneinander ein alternatives Modell eingebracht: Der Staat sollte bei den Rechnungen der Privatkunden ansetzen. Felbermayr schlägt vor, den Stromkunden 80 Prozent des Verbrauchs von 2021 zu schenken und die letzten 20 Prozent mit den Marktpreisen bezahlen zu lassen. Das würde die Menschen auf der einen Seite entlasten, aber auch zum Sparen anhalten. Weber würde die ersten 8000 kWh pro Jahr Erdgasverbrauch für eine 100-Quadratmeter-Wohnung preislich festnageln. Den Rest müsste dann wieder der Eigentümer um den Marktpreis kaufen. Eine gesamteuropäische Einigung bräuchte es dafür nicht.

Die Krux an der Sache? Zu mutigen Schritten ist die Bundesregierung nicht bereit. Kanzler Nehammer verweist lapidar auf die bisherigen Antiteuerungspakete. Nur: Bei den Ärmsten kommen sie mitunter gar nicht an.
Herr Mayer hat am 5. Juli Post vom Sozialamt bekommen. „Sie haben im April 2022 eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro als Teuerungsausgleich erhalten“, steht da. Diese Zahlung sei als Einkommen anzurechnen. Schlusssatz: „Es wird daher beabsichtigt, den zu Unrecht bezogenen Betrag zurückzufordern.“

Falter

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