Längere Laufzeit im Land der Atomwende

29. Juli 2022
"Grüne" Atomkraft? - Essenbach, APA/dpa

Selbst die Grünen können sich vorstellen, dass die letzten deutschen AKW noch einige Monate länger in Betrieb bleiben.

Das Datum ist seit langem festgelegt: Am 31. Dezember dieses Jahres endet die Laufzeit der letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland. Der Ausstieg aus der Atomenergie, eingeleitet nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011, könnte angesichts des Krieges in der Ukraine aber zumindest übergangsweise zurückgenommen werden. Denn sollte Gas aus Russland weiterhin in zu geringer Menge durch die Pipeline Nord Stream 1 bis zum Endpunkt im nordostdeutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern fließen, droht dem bevölkerungsreichsten Land und der größten Volkswirtschaft der EU ein gravierendes Energieproblem.

Alle Optionen sind daher derzeit in Diskussion, und neben dem Oppositionsführer CDU/CSU tritt auch die kleinste Regierungspartei, die liberale FDP, energisch für eine Renaissance der Atomkraft ein. „Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist“, sagte CDU-Vorsitzender Friedrich Merz gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sieht in der Laufzeitverlängerung deutscher AKW einen Akt europäischer Dimension: „Nicht nur Deutschland steht vor einer schweren Energiekrise, sondern ganz Europa.“

Als Minimalvariante gilt der sogenannte Streckbetrieb. Die Kernkraftwerke würden zunächst gedrosselt, damit sie dann mit den vorhandenen Brennstäben auch über den Jahreswechsel hinaus betrieben werden können. Im Gespräch ist das bis zum Ende des Winters, aber auch eine Verlängerung bis zum Sommer steht im Raum. Mehr Strom bekommt man dadurch allerdings nicht, die Produktion wird nur über einen längeren Zeitraum gedehnt. Die Idee dahinter: Erdgas wird in Deutschland primär zum Heizen verwendet. Es trägt aber auch zur Stromproduktion bei. Wenn man länger auf Atomenergie setzen würde, könnte somit mehr Gas zum Heizen genutzt werden.

Die drei laufenden Kraftwerke Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg erzeugten nach Angaben des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in diesem Jahr rund 6,4 Prozent des Stroms in Deutschland. Das bedeutet, der in diesem Jahr durch Kernkraft erzeugte Strom könnte bei durchschnittlichem Verbrauch fast 4,5 Millionen Vier-Personen-Haushalte ein Jahr lang versorgen. Erdgas hielt heuer 10,1 Prozent am Strommix, erneuerbare Energien hatten mit 51,6 Prozent den weitaus größten Anteil.

Bayerns Abhängigkeit vom Atomstrom

Eine längere Laufzeit über den Streckbetrieb hinaus ist technisch nur möglich, wenn neue Brennstäbe geliefert werden. Die Ministerien für Wirtschaft und für Umwelt gehen davon aus, dass neue Brennelemente frühestens ein Jahr nach Bestellung zur Verfügung stünden. Erst ab Herbst 2023 könne zusätzlicher Strom produziert werden, hieß es im März in einem Prüfbericht der Ministerien. Außerdem sei fraglich, ob ausreichend Ersatzteile für den Betrieb und die Sicherheitssysteme vorhanden seien. „Die Bundesregierung muss sich jetzt um neue Brennstäbe bemühen“, forderte CDU-Chef Merz am Mittwoch.

Konservative und liberale Politiker wollen Atomkraftwerke sogar bis 2024 weiterlaufen lassen. Prominentester Fürsprecher ist Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Im Freistaat gibt es nämlich kaum Windparks – und ihr Bau kommt nur schleppend voran. Zugleich fehlen Hochspannungsleitungen, die Strom effizient aus dem Norden transportieren könnten. Auch gibt es in Bayern nur wenige Kohlekraftwerke, die die Stromproduktion übernehmen könnten. Laut Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger deckt alleine das Atomkraftwerk Isar 2 rund 15 Prozent des bayerischen Strombedarfs.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will vor Entscheidungen zunächst die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten. Ergebnisse sollen in den nächsten Wochen vorliegen. Die sozialdemokratische Parteichefin Saskia Esken sagte der „Süddeutschen Zeitung“, bereits der erste Stresstest vom Frühjahr habe verdeutlicht, dass „alles gegen einen Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke“ spreche. Bei der Anti-Atom-Partei schlechthin, den Grünen, schließt Parteichefin Ricarda Lang einen Streckbetrieb nicht aus, sagt aber auch gegenüber dem „Tagesspiegel“: „Eine Laufzeitverlängerung wird es mit uns nicht geben.“

Wie lange dauert die Sicherheitsüberprüfung?

Um eine Verlängerung rechtlich zu ermöglichen, müsste der Bundestag das Atomgesetz ändern. Denn Ende des Jahres erlöschen alle Betriebsgenehmigungen für Kernkraftwerke in Deutschland. In dem Gesetz ist auch eine „Periodische Sicherheitsüberprüfung“ (PSÜ) verankert. Diese findet alle zehn Jahre statt. Beim Kraftwerk Isar 2 wäre die Überprüfung bereits 2019 fällig gewesen, aufgrund der für Ende 2022 projektierten Abschaltung wurde jedoch in einer Ausnahmeregelung darauf verzichtet. Laut Wirtschafts- und Umweltministerium sei bei einem Weiterbetrieb über das Jahresende hinaus eine neue Sicherheitsüberprüfung „zwingend geboten“. Spielraum sieht hingegen Rechtsanwalt Christian Raetzke: Es müsse nur entschieden werden, „ob eine PSÜ baldmöglichst nachgeholt wird oder ob man erneut – aus denselben Gründen wie 2019 – darauf verzichtet“, zitiert ihn die „Süddeutsche Zeitung“.

Strittig ist auch der Aufwand der Überprüfung. Die Regierung sieht darin einen „über Jahre währenden Prozess“ – was auf einen Stillstand der Kraftwerke währenddessen hinausläuft. Hingegen erklärt der TÜV Süd, die periodischen Sicherheitsüberprüfungen seien zumindest im Fall von Isar 2 „bisher immer betriebsbegleitend“ erfolgt.

Der Geschäftsführer des TÜV-Verbands, Joachim Bühler, hält sogar eine rasche Wiederinbetriebnahme der 2021 stillgelegten AKW Brokdorf (Schleswig-Holstein), Grohnde (Niedersachsen) und Gundremmingen C (Bayern) sicherheitstechnisch für machbar und unbedenklich. Gegenüber der „Bild“-Zeitung sagt Bühler, dies sei „keine Frage von Jahren, sondern eher von wenigen Monaten oder Wochen“. / (da/dpa)

Das AKW Isar 2 deckt 15 Prozent des Strombedarfs in Bayern. Foto: dpa / Armin Weigel

Wiener Zeitung