Die Renaissance der Atomkraft als Spaltpilz

11. August 2022

In der alten Hauptstadt Bonn läuft derzeit eine aufschlussreiche Ausstellung. „Bilder aus einem fremden Land“, lautet der Titel. Es geht um Fotografien aus dem Deutschland der 1980er-Jahre. Aber ganz so fremd wirkt dieses Land gar nicht. Am Eingang zur Ausstellung lassen sich Buttons basteln. Die Motive: Friedenstaube sowie Sticker mit „Atomkraft? Nein Danke“. All das klingt wieder ziemlich aktuell.

Jenseits kleiner orthografischer Unstimmigkeiten schien die Atom-Frage in Deutschland eigentlich endgültig beantwortet. Zum Jahresende sollten die letzten drei Atommeiler vom Netz: Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg, Emsland 2 in Niedersachsen und Isar 2 in Bayern. Doch, im vergangenen Monat, als Russlands Staatskonzern Gazprom die Erdgaslieferungen drosselte, geschah Überraschendes. „Ein Weiterbetrieb von Isar 2 ist kein Tabu“, erklärte Katrin Habenschaden. Die Frau ist nicht nur Münchens Umweltbürgermeisterin, sondern ihres Zeichens Mitglied der deutschen Grünen.

Die CSU griff die Forderung gerne auf. „Es wäre unvernünftig, die Kernenergie aus ideologischen Gründen abzuschalten und somit zehn Millionen Haushalten den Strom zu nehmen“, argumentierte dazu Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder.

So wie Münchens Umweltbürgermeisterin Habenschaden lehnen einen Weiterbetrieb längst nicht mehr alle in der Partei ab. Die Bundesspitze gibt sich aber noch einig: „Wir haben ein Wärme- und ein Versorgungsproblem, kein Stromproblem“, sagte Habeck zuletzt nach einem Treffen mit seiner österreichischen Kollegin Leonore Gewessler. Er konnte mit Zustimmung rechnen.

Die Grünen versuchen alles, um keine neue Atomdebatte aufkommen zu lassen. Nur keinen zweiten Ausstieg vom Ausstieg. Ohnehin geht es vorrangig um Isar 2. Schon bringen Söder und Merz einen Weiterbetrieb bis 2024 ins Gespräch. Ein Drittel des deutschen Erdgases wird zur Stromproduktion genutzt. Damit liegt Deutschland europaweit an der Spitze. Zwar füllen sich die Gasspeicher langsam wieder. Aber der Winter kommt. Und so beginnt eine emsige Debatte um die Fakten.

Die drei noch laufenden AKW produzieren fünf Prozent des deutschen Stroms. Für ihren Weiterbetrieb müsste der Ausstiegsbeschluss durch ein Gesetz gekippt werden, sagen die Gegner einer Verlängerung. Zudem fehlten Brennstäbe. Stimmt, sagen Befürworter. Aber die Anlagen könnten zunächst im sogenannten Streckbetrieb weiterlaufen. Die Meiler würden dann nicht mehr in Volllast produzieren, sondern das Spaltmaterial schonen und strecken. So ließe sich in Bayern zumindest über den nächsten Winter kommen. Die Grünen poltern gegen die CSU. Sie kontern, vor allem in Bayern fehle es an Strom. Grund sei der zögerliche Ausbau der Windkraft (die CSU fürchtet Anwohnerproteste). Zudem beharrte Bayern darauf, die Stromtrassen aus den Windparks im Norden unterirdisch zu verlegen. Auch das führt zu Verzögerungen.

Söder und Merz sehen vor allem eines: die Chance, die Koalition in Berlin mit dem Atom im Kern zu spalten. Die SPD lehnte einen Weiterbetrieb ebenfalls lange ab. Zuletzt vollzog Bundeskanzler Olaf Scholz aber eine Wende. Die drei letzten Reaktoren im Land seien „ausschließlich relevant für die Stromproduktion“, aber ein Weiterbetrieb könne „Sinn ergeben“. Ein Nein klingt anders.

So fürchten vor allem Habeck und die Grünen den Streckbetrieb. Ein „Stresstest“ der Meiler soll nun die nötige Klarheit bringen. Das Ergebnis soll im Sommer kommen. TÜV und Stresstest-Siegel könnten aber selbst den Grünen eine Kurzzeit-Verlängerung erleichtern.

Seit der Versorgungskrise und der Zertifizierung als „grüne“ Energieform ist die Kernenergie wieder im Aufwind. Selbst Deutschland diskutiert über eine Verlängerung der Laufzeiten für die letzten Atommeiler. Auch unter den Grünen gibt es Befürworter.

Kleine Zeitung

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