Brüssel erwägt Energie-Tabubruch

31. August 2022, Brüssel

EU-Reformideen. EU-Höchstpreis für Gas, neue Strompreisberechnung und einheitliche Abschöpfung von „Übergewinnen“ stehen zur Debatte — aber noch nicht zum Beschluss.

Die Verzwölffachung der Gaspreise binnen 18 Monaten lassen mehrere lange Zeit als unmöglich erklärte Eingriffe in die europäischen Energiemärkte zusehends realistisch erscheinen. Drei Reformideen stehen derzeit im Zentrum der Debatten zwischen Brüssel und den Staatskanzleien. Wie schnell sie umgesetzt werden können, ist allerdings nicht vorhersagbar.

Da wäre erstens die Frage eines Höchstpreises für Gas. Spanien und Portugal haben einen solchen im Mai eingeführt, allerdings zum Preis hoher staatlicher Subventionen für jenen Teil, der diesen Höchstbetrag übersteigt. Diese Sonderregelung wurde den beiden iberischen Mitgliedstaaten von der Europäischen Kommission als ausnahmsweise zulässige staatliche Beihilfe genehmigt, weil die Halbinsel kaum mit den Elektrizitäts- und Gasleitungsnetzen des Kontinents verknüpft ist.

Heikle Frage Merit-Order-Reform

Ob diese Lösung auf die 27 erweitert werden kann, ist allerdings fraglich. Die SPD hat dieser Tage ein Modell vorgeschlagen, welches in Deutschland pro Haushalt einen Grundbedarf an Gas definieren würde, der zu einem fixierten Tarif bepreist würde. Die Mehrkosten würde der Staat bezahlen. Das ist angesichts der klimatischen und energiepolitischen Verschiedenartigkeit der Mitgliedstaaten nicht verallgemeinerbar.

Realistischer scheint eine Deckellösung, die sich auf die Energiewirtschaft beschränkt. Das würde das akute Problem des exorbitanten Strompreises einzudämmen helfen, der bekanntlich aufgrund der Verwendung von immer teurer werdendem Gas zur Elektrizitätsgewinnung so stark steigt. Laut der Nachrichtenagentur Reuters soll der deutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister von den Grünen, Robert Habeck, so einem EU-Deckel per SMS-Nachricht an seine Amtskollegen zugestimmt haben. Als Indiz für diese Lösung dient auch die vage Ankündigung von Habecks Landsfrau und Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, die am Montag einen Vorschlag zur Trennung der Gas- von den Strompreisen versprach.

Wenn die EU sich anschickt, den Gas- vom Strompreis zu entkoppeln, muss sie zweitens mittelfristig das sogenannte Merit-Order-System überholen (siehe Seite 3). Dieses sorgt dafür, dass jeweils das als letztes, teuerstes zugeschaltete Kraftwerk den Marktpreis definiert. Weil das typischerweise Gaskraftwerke sind, wird dieses System derzeit für den Anstieg der Strompreise verantwortlich gemacht. Ein damit befasster Kommissionsbeamter meinte vor einigen Wochen auf Frage der „Presse“ dazu sinngemäß, es verhalte sich damit wie mit Winston Churchills Bonmot über die Demokratie: ein schlechtes System — aber bisher habe man noch kein besseres gefunden.

Vetodrohung bei Sondersteuer

Bleibt drittens die Frage, ob und wie die hohen und aufgrund der hier geschilderten Marktautomatismen anfallenden Windfall-Gewinne der Energiekonzerne abgeschöpft werden sollen, um damit beispielsweise armen Haushalten Strom- und Heizzuschüsse zu finanzieren. Mehrere Mitgliedstaaten, beispielsweise Belgien, fordern eine europäische Lösung dafür. Das ist einerseits vernünftig, weil andernfalls kraft unterschiedlicher Abgaben Ungleichgewichte zwischen den nationalen Energieunternehmen entstehen könnten. Andererseits gilt in Fragen von Steuern und Abgaben das Einstimmigkeitsprinzip in der EU. Das gibt also einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu politischer Erpressung in die Hand. Davon hatten zuletzt Polen und Ungarn in der Frage des globalen Mindestsatzes für die Körperschaftsteuer Gebrauch gemacht, um Druck im Rechtsstaatsstreit zu machen.

Die Presse