Droht der Ukraine ein GAU?

31. August 2022

Rund um das AKW in Saporischschja tobt nicht nur ein Kampf mit Waffen. Es geht auch darum, wohin der Strom fließt.
Frank HölthoneGerhard Schwischei Saporischschja, Wien. Nach dem bisher schwerwiegendsten Zwischenfall rund um das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine schien es am Freitag zumindest teilweise wieder in Betrieb zu sein. Wie der ukrainische Staatskonzern Energoatom mitteilte, gingen zwei der sechs Reaktorblöcke ans Netz. Da das größte Atomkraftwerk Europas mehrere Stunden vom Stromnetz getrennt gewesen sei, habe die Gefahr eines Super-GAU bestanden, sagte Präsident Selenskyj.

Die letzten beiden noch laufenden Reaktoren waren am Vortag in den Notfallmodus heruntergefahren worden. Anlass war offenbar, dass eine Aschenhalde des benachbarten Wärmekraftwerks in Brand geraten war. Das Feuer soll mehrere Kurzschlüsse ausgelöst und die letzte Stromleitung zum Kernkraft- werk unterbrochen haben.

Normalerweise verbinden vier Stromleitungen das AKW mit dem ukrainischen Stromnetz. Drei davon hat man nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien in den vergangenen Wochen, in denen das Kraftwerk immer wieder beschossen wurde, schon zerstört. Am Donnerstag soll es auch die letzte Leitung, zumindest vorübergehend, getroffen haben. Die russisch kontrollierte Verwaltung im besetzten Teil der Region Saporischschja behauptete, ukrainische Streitkräfte hätten das Gelände beschossen. Die ukrainische Seite beschuldigt zum wiederholten Mal die russischen Truppen, die das Atomkraftwerk am Ostufer des Dnipro Anfang März erobert haben, für die Anschläge.

Für Georg Steinhauser, Strahlenexperte an der TU Wien und Uni Hannover sowie Mitglied des Strahlenschutzbeirats im österreichischen Gesundheitsministerium, ist mit der vollständigen Trennung des AKW vom Stromnetz das „Eis, auf dem man sich bewegt, schon sehr dünn geworden“. Auch wenn die letzten beiden Reaktoren vom Netz genommen worden seien, benötige man Strom, um die Reaktoren weiter zu kühlen. „Ein Reaktor lässt sich innerhalb von Sekunden abschalten, aber nur zu 90 Prozent. Es bleibt eine Restleistung von rund zehn Prozent durch die Spaltprodukte des radioaktiven Abfalls“. Das heißt, die Reaktoren müssen weiter gekühlt werden. Deshalb war es am Donnerstag in Saporischschja auch notwendig, einige der verfügbaren Dieselgeneratoren zu starten, um die Kühlung sicherzustellen.
Steinhauser ist auch deshalb beunruhigt, weil es teils widersprüchliche und nicht nachvollziehbare Informationen aus Saporischschja gibt. So könne man zwar Reaktoren schnell abschalten, aber nicht umgehend wieder starten, weil der Reaktor eine Zeit lang mit dem Spaltprodukt Xenon-135 „vergiftet“ sei und die Kernspaltung blockiere. Umso dringender sei, dass so rasch wie möglich Strahlenexperten der IAEA das Kraftwerk besuchen könnten, um eine Bestandsaufnahme zu machen, was nun wirklich alles zerstört und beschädigt sei.

Saporischschja ist zum ersten Atomkraftwerk geworden, das auf einem Schlachtfeld steht. Der Moskauer Atomphysiker Andrei Oscharowski schließt nicht aus, dass schwere Raketen, die von der gegnerischen Luftabwehr getroffen wurden, zufällig auf der Schutzhülle der Reaktoren landen und sie durchschlagen könnten. Aber nach Aussage des ukrainischen Atomingenieurs Oleksandr Kupnyj würde solch ein Zufallstreffer noch keine GAU-Gefahr bedeuten. „Um den Reaktor selbst zu beschädigen, müssen mehrere Präzisionssprengköpfe die gleiche Stelle treffen“, sagte er auf YouTube.
Steinhauser fürchtet derzeit ebenso nicht ein gezieltes Zerstören der Reaktoren selbst. Aber sollten zum Beispiel abgeschaltete Reaktoren nicht mehr gekühlt werden können, drohe ein Szenario wie in Fukushima 2011 mit Kernschmelze und Freisetzung von Radionukliden. 40 Kilometer rund um das Kraftwerk sind dort heute noch Sperrzone. „Grundsätzlich kann man die Reaktoren mit Dieselaggregaten lange kühlen. Aber was ist, wenn auch sie beschädigt werden oder die Versorgung mit Diesel nicht mehr sichergestellt werden kann?“ Eine ähnlich hohe Strahlenbelastung wie durch Tschernobyl, betont Steinhauser, sei aber in Österreich selbst bei ungünstiger Wetterlage im Fall einer solchen Kernschmelze ausgeschlossen. Man würde erhöhte Radioaktivität messen, aber Gegenmaßnahmen wie die Einnahmen von Jodtabletten wären nicht notwendig.

Seit Wochen verdichten sich Gerüchte, Russland wolle den Atomstrom aus Saporischschja künftig komplett selbst nutzen. Die Reaktoren versorgen derzeit hauptsächlich den Westen der Ukraine, also nicht von den Russen besetztes Territorium. Der britische „Guardian“ berichtete am Mittwoch, Petro Kotin, Chef des Kraftwerksbetreibers Energoatom, habe gesagt, die russischen Besatzer hätten Kraftwerksmitarbeitern einen Plan präsentiert, wie sie die Anlage zunächst vom ukrainischen Netz trennen und dann ans russische Stromnetz anbinden würden. Die USA warnten dann auch am Freitag Russland, das AKW dauerhaft vom ukrainischen Netz zu trennen: „Das Atomkraftwerk und der Strom, den es produziert, gehören der Ukraine.“

Salzburger Nachrichten

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