Der neue Chef des Wirtschaftsinstituts Bruegel mahnt die EU-Staaten, das Energieangebot zu erhöhen. Die deutschen AKWs müssten länger laufen.
Herr Zettelmeyer, Russland hat dank der hohen Energiepreise hohe Deviseneinnahmen. Zieht Europa im Wirtschaftskrieg den Kürzeren?
Die Sanktionen sind nicht so effektiv, wie wir uns das vorgestellt haben. Die hohen Energiepreise helfen Russland kurzfristig. Die Frage ist: War das vermeidbar? Der Fehler lag darin, das Ölembargo anzukündigen, es aber nicht gleich umzusetzen. Diese Abfolge war sicher keine gute Idee, denn der Preis ist stark gestiegen, die Nachfrage aber nicht gesunken. Wie effektiv das Embargo nach Inkrafttreten am Jahresende ist, wird sich zeigen.
Europa leidet unter den hohen Energiepreisen. Was sollten die EU-Staaten tun?
Sie müssen alle Hebel gleichzeitig ziehen. Auf der Angebotsseite muss Deutschland die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern, nicht nur Vorkehrungen für einen Notbetrieb treffen. Die Niederlande sollten die Gasförderung erhöhen. Und die EU-Regierungen sollten Gas gemeinsam einkaufen, wie wir es bei den Coronaimpfstoffen erfolgreich gemacht haben. Auch auf der Nachfrageseite gibt es gute Gründe für eine staatliche Intervention. Wir könnten etwa die Temperatur in öffentlichen Gebäuden absenken und die Beleuchtung von Läden nach Ladenschluss abschalten.
Berlin will „Zufallsgewinne“ der Energiebranche abschöpfen.
Ich halte die Besteuerung von „Zufallsgewinnen“ für akzeptabel, sofern klar ist, dass es sich um eine an die jetzige extreme Situation gebundene Ausnahme handelt. Das Gleiche gilt für kurzfristige Unternehmenshilfen, die den Zusammenbruch von zukunftsfähigen Wertschöpfungsketten verhindern sollen. Allerdings ist es wichtig, einen europäischen Wettlauf um Energiesubventionen zu vermeiden. Und mittelfristig sollte die Energieintensität der deutschen Industrie gesenkt werden. Dadurch würde ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Energieintensive Produktionsstufen könnten an Unternehmen in befreundeten Ländern ausgelagert werden, die verlässlicheren Zugang zu billiger Energie haben.
Die Deutschen sperren sich gegen längere Laufzeiten für Atomkraftwerke und gemeinsame Gaseinkäufe. Tut Berlin zu wenig für die Solidarität in der EU?
Ich glaube schon. Wir sind in einer Ausnahmesituation. Die Vorbehalte gegenüber einem gemeinsamen Gaseinkauf verstehe ich nicht.
Am Donnerstag tagt die Europäische Zentralbank (EZB), es wird ein großer Zinsschritt von bis zu 0,75 Prozentpunkten erwartet. Droht eine Rezession?
Sie ist nicht unausweichlich. Wir haben in der Euro-Zone zwei starke Quartale hinter uns. Das dritte Quartal wird im Süden stark wegen des Tourismusbooms. Wir haben nach wie vor sehr starke Arbeitsmärkte. Es ist im Prinzip eine starke Wirtschaft, die zusätzliche Schläge verkraften kann, bevor sie in die Rezession geht. Die Frage ist: Wie viele
Schläge brauchen wir, um die Inflation runterzubekommen? Und wird die Wirtschaft dann in eine Rezession rutschen?
Und die Antwort?
Das hängt davon ab, was in der Ukraine und im Rest der Weltwirtschaft passiert – und auch davon, wie wir unsere Energiepolitik gestalten. Wenn wir gemeinsam mit den EU-Partnern das Energieangebot hochfahren und den Konsum senken, haben wir noch Spielraum, um eine Rezession zu vermeiden. Aber das Risiko ist sehr hoch. Die Kombination von sehr viel höheren Zinsen, wie wir sie erwarten, und hoher Unsicherheit auf dem Energiemarkt im Winter ist keine gute.
Hat die EZB zu spät reagiert?
Alle Zentralbanken haben zu spät reagiert, und relativ zum Zyklus hat die EZB weniger zu spät reagiert als die Fed. Möglicherweise hatte sie Glück, weil die Inflationsentwicklung in der Euro-Zone der in den USA hinterher war, und insofern hat die EZB aus den Fehlern der Fed lernen können.
Dennoch haben wir jetzt 9,1 Prozent Inflation.
Das Ergebnis ist katastrophal, aber es ist schwer, der EZB Vorwürfe zu machen, wenn sich die komplette Ökonomenzunft vertan hat.
Moment: Gerade in Deutschland haben Ökonomen doch auf die Inflationsgefahr hingewiesen.
Ja, wenn man immer vor Inflation warnt, hat man alle zehn Jahre mal recht. Das Argument, das am meisten zieht, ist, dass es sowohl in der Euro-Zone wie auch in den USA in der Pandemie zu einer extrem starken Ausweitung der Geldmenge kam. Vermutlich gab es einen Moment, wo man sagen konnte, die Inflationsrisiken dieser Expansion überwiegen die Sorge davor, den Aufschwung abzuwürgen. Wir waren alle von der Idee überzeugt, dass die Pandemie zu einem dauerhaft niedrigen Wachstum führen könnte. Es war ein kalkuliertes Risiko, die Inflationsrisiken geringer einzustufen als die potenziellen Wachstumsrisiken. Wir haben uns da wahrscheinlich zumindest mit dem Zeitpunkt verkalkuliert.
Sorgen Sie sich um die Schuldentragfähigkeit in der Euro-Zone?
Das Risiko ist da, ist aber nicht akut, außer es gibt einen Unfall. Damit meine ich eine Situation wie in Italien während der ersten Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Salvini. Das war eine Episode der Verantwortungslosigkeit in der Wirtschaftspolitik. Aber ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass sich das wiederholt. Solange das nicht passiert, haben wir das neue EZB-Instrument, um die Marktfluktuation bei den Zinsen einzudämmen.
Geben Sie also Entwarnung?
Wenn sich die Risikoaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen in dem Bereich wie im Augenblick bewegen und die Regierungen nicht unverantwortlich handeln, werden sich die Märkte darauf verlassen, dass das EZB-Instrument wirklich zur Anwendung kommt. Das ist ein relativ starkes Sicherheitsnetz.
Herr Zettelmeyer, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellten Moritz Koch und Carsten Volkery .
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Ich halte die Besteuerung von ‚Zufallsgewinnen‘ für akzeptabel, sofern klar ist, dass es sich um eine an die jetzige extreme Situation gebundene Ausnahme handelt. Jeromin Zettelmeyer Chef des Wirtschaftsinstituts Bruegel
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