Weg vom Gas, sonst bleibt Europa durch Russland erpressbar, mahnt die Energie- und Umweltexpertin des Ifo-Instituts in München, Karen Pittel. Dafür seien vorübergehend Öl und Kohle in Kauf zu nehmen. Eingriffe in Strom- und Gasmarkt sollten wohlüberlegt sein, denn jede Änderung kann negative Effekte und Regulierungsbedarf nach sich ziehen.
Die Energiekrise hält Europa auf Trab. Die Vorbereitungen für ein Gasembargo sind nicht so weit, wie sie sein sollten – und warum Spanien ein schlechtes Vorbild ist im Kampf gegen hohe Strompreise.
STANDARD: Sind die Strom- und Gasmärkte verrückt? Oder funktionieren sie doch, denn ein knappes Gut zieht höhere Preise nach sich?
Pittel: Im Grunde funktionieren die Märkte schon. Wenn das Angebot knapp beziehungsweise die Nachfrage hoch ist, dann steigen die Preise. Das sieht man auf den Gasmärkten, den Ölmärkten, und man sieht es auch auf de Strommärkten. Was man aber auch sieht, ist eine gewisse Nervosität auf den Märkten. Die Preise gehen in relativ kurzen Abständen sehr stark rauf und wieder runter, was durch realwirtschaftlichen Daten nicht unbedingt gedeckt ist. Diese kurzfristigen Komponenten wie Ängste vor künftiger Knappheit in Markt-Preis-Analysen miteinzubeziehen ist extrem schwierig.
STANDARD: Ein aktueller Mangel scheint diese erratischen Entwicklungen also eher nicht zu rechtfertigen, oder schiebt der Bedarf nach Vorräten an Speichergas für den Winter die Preise dermaßen an?
Pittel: Es kommt zwar noch Gas aus Russland, aber sehr, sehr langsam. Es gibt also aktuell eine Knappheit und kaum eine verlässliche Aussicht auf eine kurzfristige Erhöhung des Angebots.
STANDARD: Hohe Preise sind eigentlich das beste Mittel gegen eine hohe Inflation. Warum gilt das jetzt nicht?
Pittel: Was wir aktuell beobachten, sind quasi zwei Effekte steigender Energiepreise: Zum einen lassen die hohen Kosten für Energie auch die Preise von Gütern ansteigen, bei deren Produktion ebenfalls Energie verwendet wird. Allerdings tritt dieser Effekt häufig nur zeitverzögert ein, weil beispielsweise noch bestehende Verträge wirken. So kommt dieser Inflationsschub teilweise erst mit Wochen oder Monaten Verzögerung. Gleichzeitig haben wir aber den Effekt, dass die Nachfrage bei hohen Preisen runtergeht, was die Inflation dämpft. Bei den Ölpreisen kann man dies immer sehr gut beobachten, da sie sehr empfindlich auf Änderungen der Nachfrage reagieren. Das macht es auch so schwierig vorherzusagen, was passiert, wenn es zum Beispiel ein Ölembargo der EU gegen Russland gibt: Zum einen ist zu erwarten, dass Erdöl auf den internationalen Märkten zumindest in gewissem Umfang knapper wird. Das treibt die Preise nach oben. Führt der Ukraine-Krieg aber zu einer Rezession, drückt das die Erdölpreise. Hier ist die Frage, welcher Effekt stärker ist.
STANDARD: Man kann also nicht darauf warten, dass sich die Verwerfungen von selbst wieder einrenken?
Pittel: Das ist die Frage, die alle umtreibt: Kommen wir irgendwann wieder auf die Preise, wie sie früher waren? Grundsätzlich besteht natürlich ein Anreiz, bei hohen Preisen mehr Erdgas und Erdöl aus dem Boden zu holen. Dies würde wiederum die Preise senken. Allerdings dauert es, bis die Produzenten die entsprechenden Anlagen errichten und mehr auf den Markt bringen können. Selbst wenn Erdgas aus dem Boden geholt werden kann, braucht es entsprechende Infrastruktur, um es zu den Abnehmern zu bringen: Es braucht Terminals und Tanker, um Erdgas zu verflüssigen, zu transportieren und wieder zu entflüssigen. Gleichzeitig sorgt die Frage für Verunsicherung, wie lange die zusätzlichen Kapazitäten gebraucht werden. Geht es nach den Klimazielen, müssen die global genutzten Mengen in den nächsten 20 oder 30 Jahren stark zurückgehen. Öl- und Gasproduzenten fragen sich, welche Investitionen lohnen sich in der mittleren Frist?
STANDARD: Russland fackelt Erdgas in großem Stil ab, und China pfeift nach dem Covid-bedingten Konjunktureinbruch auf Klimaschutz, von den USA ganz zu schweigen. Wie sinnvoll ist es da, wenn Europa weiter auf Dekarbonisierung macht?
Pittel: Wir sehen aus den Berichten des Weltklimarats, welche Konsequenzen es hat, wenn die Erderwärmung über 1,5 oder zwei Grad steigt. Wir wissen, was zu tun ist. Ich stimme Ihnen absolut zu, dass der internationale Klimaschutz, die Hoffnung, dass sich Länder verbünden und gemeinsam Klimapolitik betreiben, also die Idee von Klimaklubs, wesentlich unwahrscheinlicher geworden ist. Andererseits besteht eine gewisse Chance für Europa, zu zeigen, dass man eine Wirtschaft dekarbonisieren und trotzdem wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Das könnte dann ein Vorbild für die Welt sein.
STANDARD: In Ihrer Studie vom April haben Sie und die Ifo-Experten der Politik geraten: Zögert ein Gasembargo nicht hinaus, sonst fehlt der Druck, bis zum Winter umzurüsten. Wir machen gerade nichts anderes, als ein Embargo hinauszuzögern. Jetzt ist der Winter da, was nun?
Pittel: Wir haben das im März sehr kontrovers diskutiert in der Forschungsgruppe, herausgekommen ist ein Kompromiss. Einerseits hilft das noch fließende Gas, um die Speicher zu befüllen. Andererseits sollten wir uns so schnell wie möglich unabhängig machen. Ein frühes Gasembargo hätte den Druck, den Gasverbrauch zu verringern, stark erhöht. Dann müssten wir heute vermutlich nicht mehr so viel zusätzlich einsparen. Da es kein frühes Embargo gab, wurden solche Einsparmaßnahmen, da gebe ich Ihnen recht, nur sehr zögerlich ergriffen.
STANDARD: Wer im Ernstfall kein Gas mehr bekommt, also welche Produktion, welches Werk abgeschaltet wird, ist noch immer ein Staatsgeheimnis.
Pittel: Das ist noch nicht so weit gediehen, wie es sein könnte. Aber es ist auch ein höchst komplexer Prozess, die Faktenfindung sehr kompliziert. Denn kein Unternehmen hat ein Interesse, sich so darzustellen, dass es einfach ist, gerade bei ihm das Gas abzustellen. Das sind hochsensible Unternehmensdaten, die nicht öffentlich zugänglich sind. Was man allerdings schon sehen kann: Einige Unternehmen schaffen es durchaus, mit Kohle oder Öl Wärme zu erzeugen und vom Gas wegzukommen.
STANDARD: Öl oder Kohle statt Gas – das ist doch der helle Wahnsinn.
Pittel: Kurzfristig müssen wir alle Register ziehen, um den Gasverbrauch herunterzubekommen, sonst bleiben wir erpressbar. Wenn wir signalisieren, dass wir das Gas tatsächlich brauchen, haben wir das beste Szenario dafür geschaffen, dass tatsächlich kein Gas geliefert wird. Denn dann sind wir erpressbar. Wenn wir den Gasverbrauch reduzieren und sagen könnten, wir bräuchten das Gas aus Russland nicht mehr unbedingt, dann wird die Wahrscheinlichkeit, dass doch Gas aus Russland kommt, höher. Denn dann kann ein Embargo nicht mehr so stark schaden. Das macht es für die Politik komplizierter.
STANDARD: Die EU diskutiert über einen Gaspreisdeckel zumindest in der Stromerzeugung, weil der Gaspreis Strom so teuer macht. Können wir dem Gas ein Mascherl geben? Erdgas ist Erdgas ist Erdgas.
Pittel: Es sind zwei Dinge in der Diskussion. Zum einen ein Preisdeckel für Gasimporte, primär aus Russland. Da ist die Frage, ob Russland bei einem solchen Preisdeckel überhaupt wieder liefern würde. Im Moment kommt ja sowieso kaum etwas. Allerdings bringt es auch nichts, wenn wir Putins Spiel des Hoch- und Herunterfahrens immer weiter mitspielen. Ein Preisdeckel auf Lieferungen aus anderen Regionen sollte allerdings sorgfältig überlegt sein: Ich fürchte, wenn wir nur noch eine bestimmte Summe zahlen, würde das Gas zu Nachfragern gehen, die mehr zu zahlen bereit sind, zum Beispiel in Asien. Das würde unsere verfügbare Gasmenge noch weiter senken.
Als zweite Idee wird ein Deckel für die Preise diskutiert, die die Stromerzeuger erhalten. Allerdings in der Regel nicht auf Gas, sondern auf Braunkohle und Erneuerbare. Die Logik ist, dass Erneuerbare in der Produktion ja kaum Kosten pro Kilowattstunde haben und damit bei einem hohen Strompreis unglaubliche Gewinne einfahren. Gas bliebe zwar die preisbestimmende Technologie, aber den Erzeugern würden die Gewinne weggesteuert, die den Preisdeckel übersteigen. Ihnen würde also signalisiert: „Ihr könnt nicht mehr als einen bestimmten Preis verdienen, den Rest steuern wir komplett weg.“
STANDARD: Genau das ist in Spanien passiert …
Pittel: In Spanien hat man Erdgas direkt subventioniert, also billiger gemacht für die Stromerzeugung. Damit war der Preis auf den Strommärkten niedriger, was dann für Frankreich Anreiz war, diesen Strom zu importieren. Das war in gewisser Weise die schlechteste aller Welten. Wenn man den Preis subventioniert, generiert man mehr Nachfrage, und wenn man die eigenen Staatsmittel dazu verwendet, es günstiger zu machen – und dann profitiert davon das Nachbarland. Das ist ganz schiefgelaufen. Das zeigt, welche Gefahren nationale Alleingänge in sich bergen.
Karen Pittel leitet das Ifo-Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen. Seit 2010 ist sie Professorin für VWL an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
„Wir müssen alle Register ziehen, um den Gasverbrauch herunterzubekommen. Sonst sind wir erpressbar.“
Der Standard