Wenn alle Räder stillstehen

16. November 2022

Für manche Grüne paradiesisch, für die meisten Menschen ein Verarmungsprogramm: das leise Verschwinden der Industrie.

Ein paar Schlagzeilen aus dem Wirtschaftsteil deutscher Medien im Oktober: „Nach Insolvenz stellt Brauerei Bischoff Betrieb endgültig ein“, „Aluminiumproduktion in Deutschland lohnt sich wegen Energiepreisen nicht mehr“, „Ifo: Jede vierte Firma plant Arbeitsplatzabbau“, „Möbelhersteller Hülsta meldet Insolvenz an“, „Autozulieferer Bia Forst schließt Betrieb“, „Ettlinger Weberei Ettlin wird geschlossen“, „Seifenhersteller Kappus ist insolvent“, „Wolff Bau meldet Insolvenz an“, „Kronos Titan drosselt Produktion auf ein Viertel“. Und so weiter und so fort, kaum ein Tag ohne derartige Meldungen. Selbst der Chemiegigant BASF, eine der industriellen Herzkammern Deutschlands, will künftig mehr in China produzieren. Was ist da los?

„Die Deindustrialisierung in Deutschland und Europa nimmt weiter Fahrt auf“, meldete jüngst „Wall Street Online“ – übrigens auch in Österreich, wo immer mehr Industriebetriebe ohne großes Aufsehen Teile ihrer Produktion ins Ausland verlegen. Schon fürchtet Industriellen-Chef Georg Knill eine „Kernschmelze im österreichischen industriellen Mittelstand“.

Nun ist zwar Jammern bekanntlich der Gruß des Kaufmanns, aber hier bahnt sich wirklich ein Problem an, das nicht zuletzt den Sozialstaat und seine gewaltigen Finanzierungserfordernisse ernsthaft bedroht. Denn langfristig werden wir eben nicht davon leben können, „dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden“, wie der deutsche Ex-Kanzler und SPD-Chef Gerhard Schröder das einmal launig, aber zutreffend angemerkt hat.

Auch wenn die Vorstellung für manche Grüne und Grün-Affine paradiesisch erscheinen mag – ein Verschwinden von großen Teilen der Industrie würde uns alle deutlich ärmer machen, weil industrielle Produktion nun einmal ein ganz wesentlicher Treiber von Wohlstand ist. Gleichzeitig würde eine endgültige Deindustrialisierung dem Klima nichts nützen, weil die Produktion dann eben woanders stattfindet und damit natürlich auch die Emissionen. Und gleichzeitig würde unsere Abhängigkeit von industriellen Produzenten etwa in China ein nicht mehr akzeptables Ausmaß annehmen. Deindustrialisierung ist eine ganz, ganz schlechte Idee.

Nun sind zweifellos die extrem explodierten Energiepreise eine wesentliche Fluchtursache für die Industrie, aber nicht die einzige. Auch die enorm hohen Lohnnebenkosten und die teils schikanöse Regulierungsdichte auf nationaler wie auf europäischer Ebene spielen eine Rolle. Die Politik kann manche dieser Probleme lösen oder jedenfalls lindern, aber natürlich nicht alle. Das ist auch nicht ihr Job; Industrielle sind es gewohnt, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, wo es nur irgendwie geht.

Trotzdem machen weder Brüssel noch Berlin oder Wien derzeit den Eindruck, den Ernst der Lage wirklich begriffen zu haben. Doch viel Zeit haben sie nicht mehr: Eine Aluminiumschmelze, die wegen zu hoher Strompreise verlegt wird, kommt erfahrungsgemäß nie mehr zurück, auch wenn der Strom wieder billiger geworden ist. Aber wenigstens Haare schneiden kann man zur Not ja auch ohne Strom. gastkommentar@wienerzeitung.at
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Christian Ortner am Freitag