Der Schweizer Plan für Strommangel

2. Dezember 2022, Bern

Notfall. Waschen bei 40 Grad, 100 km/h auf den Straßen, keine Leuchtreklame: Der Stufenplan des Bundesrates ist detailliert und betrifft Großbetriebe wie Haushalte. Die Kontrolle wird schwierig.

Vor ziemlich genau einem Jahr verdutzte Guy Parmelin die Schweizer Öffentlichkeit, und vor allem verärgerte er Energieministerin Simonetta Sommaruga. In einem statisch wirkenden Video, das Ruhe ausstrahlen sollte — im Gegensatz zum vermittelnden Inhalt —, warnte Parmelin vor einer Strommangellage, „neben der Pandemie die größte Gefahr für die Versorgung der Schweiz“. Es sei wichtig, vorauszuplanen, so der damalige Bundespräsident und konservative Wirtschaftsminister. Und im Oktober des Jahres 2021 fragten sich sowohl die Bevölkerung als auch das Energieministerium: Welche Strommangellage? Lehnte sich Parmelin ohne Not nicht gar weit aus dem Fenster?
Nicht weit genug, das weiß ganz Europa seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den daraus resultierenden Energie-Engpässen. Dabei rechnete vor einem Jahr Sommarugas Ministerium selbst vor, dass Stromengpässe im Winter 2025 virulent sein könnten. Denn im Sommer kann sich die Schweiz zwar gänzlich selbst mit Strom versorgen, im Winter jedoch ist die Alpenrepublik auf Importe angewiesen. Nun hat Parmelin angesichts der verschärften Lage einen Notfallplan für ebenjene Strommangellage präsentiert, der in der Konsequenz einen Blackout, also einen Totalausfall, verhindern soll. Der Plan ist äußerst detailliert und umfasst vier Eskalationsstufen, wobei die erste eigentlich jetzt schon greift — nämlich der Aufruf an die Bevölkerung, freiwillig Strom zu sparen.

Keine Laubbläser

In einer zweiten Stufe verbietet der Bundesrat stromfressende Geräte, die nicht lebensnotwendig sind. Das sind beispielsweise Leuchtreklame und Schaufensterbeleuchtungen, aber auch Laubbläser. In öffentlichen Sanitäranlagen soll das warme Wasser abgedreht werden, Haushalte sollen Wäsche nur mehr bei 40 Grad waschen. Rolltreppen und Lifte werden abgeschaltet, Saunas und Schwimmbäder müssen schließen oder können nur eingeschränkt funktionieren. Entschärft sich die Situation nicht, werden die Öffnungszeiten für den Handel reduziert. Privatwohnungen dürfen nur mehr bis 18 Grad geheizt werden, Skilifte müssen stillstehen, Clubs und Freizeiteinrichtungen werden geschlossen.
Die dritte Eskalationsstufe sieht die Kontingentierung von Strom vor, das betrifft vor allem die 34.000 Großbetriebe, die die Hälfte des Schweizer Stroms fressen. Der Bundesrat argumentiert hier mit besserer Kontrolle, da die Stromzähler in den Betrieben den Verbrauch „im zeitlichen Verlauf“ messen und die Messungen dem Verteilnetzbetreiber automatisiert übermittelt werden. Sonderregelungen gelten jedoch für die Bundesbahnen. In dieser Eskalationsstufe wird auch die Bevölkerung angehalten, auf E-Autos weitgehend zu verzichten — was freilich die Autoimportbranche erzürnt. Recht wenig Resonanz rief hingegen der Plan hervor, den Verkehr auf den Straßen auf 100 km/h zu reduzieren, um die Rohstoffe woanders einsetzen zu können.

Als vierte Stufe, und als Ultima ratio, sieht der Notfallplan zeitweise Abschaltungen des Netzes (für die Dauer von vier Stunden) vor. Ausgenommen sind Einrichtungen wie Spitäler, wobei sich das in der Praxis kaum umsetzen lässt, da das Krankenhaus in der Regel nicht an ein separates Stromnetz angeschlossen ist. Letztlich wird es wohl so aussehen, dass das Viertel, in dem sich das Spital befindet, den Strom behalten darf, sagt Christian Schaffner, Energieexperte an der ETH Zürich. Die Einwohner werden dann angehalten, den Strom nicht zu verwenden, obwohl sie ihn theoretisch hätten.
Es zeigt sich die Crux des Notfallplans, die der Sanktionierung. Die Polizei werde sicher nicht von Wohnung zu Wohnung gehen, um die Raumtemperatur zu kontrollieren, so Schaffner: „Man wird eher auf die Solidarität der Menschen setzen.“ Den Stufenplan hält er grundsätzlich für vernünftig, wobei Detailfragen noch offen seien. Der Bundesrat selbst gab indessen an, für den Winter 2023/24 einen umfassenderen Notfallplan vorlegen zu wollen. Der aktuelle befindet sich derzeit in der sogenannten Vernehmlassung, wurde also in die Kantone geschickt und den Parteien zur Prüfung vorgelegt.

Entwarnung für die Stauseen

Die Schweiz hat auch Maßnahmen ergriffen, die Reserven der Speicherkraftwerke im Land zu lassen und nicht zu exportieren: Sie bezahlte die Betriebe dafür, gewisse Kontingente zu behalten. Wohl effektiv, aber eine sehr teure Angelegenheit, wie Schaffner betont. An anderer Stelle leaste Bern Gaskraftwerke und will — sollte es sehr knapp werden — zusätzlich Strom mit fossilen Energieträgern erzeugen. Neue Turbinen wurden zwar angeschafft, doch die Hoffnung sei, dass diese nie in Betrieb gehen, sagt Schaffner. Denn klimapolitisch ist diese Maßnahme umstritten. Zumindest die Pegelstände in den Schweizer Stauseen haben sich nach diesem trockenen Sommer mittlerweile normalisiert.

Die Presse