„Gas wird noch lang eine wichtige Rolle spielen“

3. August 2023, Wien

Interview. Erneuerbare reichen oft nur aus, das Wachstum der Energienachfrage auszugleichen. Es brauche einen effizienteren Umgang, sagt Energieexperte Roberto Bocca.

Die Presse: Aufgrund des Kriegs haben viele Länder in Europa versucht, ihren Gasverbrauch zu reduzieren. Zuvor wurde Gas lang als sogenannte Brückentechnologie beim Umbau des Energiesystems auf CO2-neutrale Erzeugungsformen gesehen. Hat es diese Rolle noch?

Roberto Bocca: Gas wird noch für eine lange Zeit eine wichtige Rolle im Energiemix spielen. Denn die Wahrheit ist, dass die Nachfrage nach Energie weiterhin nach oben geht. Und Gas ist eine gute Quelle, um diesen Energiebedarf zu decken. Es gibt aber eine wichtige Implikation des Kriegs. So soll das Energiesystem ja sicher, nachhaltig und leistbar sein. Die Sicherheit wurde zumindest in Europa durch den Krieg nicht verändert, aber die Leistbarkeit. Im Fall von Gas hat Europa nämlich begonnen, dieses zu wesentlich höheren Preisen aus anderen Quellen zu beziehen. Die Folge davon war, dass es in anderen Ländern, die es zuvor importiert hatten, nun zu Engpässen kam. Europa zahlte wiederum 500 Mrd. Euro an Subventionen an Konsumenten und Unternehmen, um diese Preissteigerungen auszugleichen.

Die Bedeutung von Gas bleibt also bestehen, und es wird nicht so schnell durch Erneuerbare ersetzt werden?
Ja, definitiv. Nur eine Zahl: Vor 30 Jahren bestand der globale Energiemix zu 80 Prozent aus fossilen Brennstoffen. Heute sind es ebenfalls 80 Prozent.

Man könnte also sagen, dass sich nichts verändert hat.
Doch. Die gesamte Energienachfrage hat sich massiv verändert. Wenn die Nachfrage konstant steigt, reichen die zusätzlichen Erneuerbaren meist nur, um das Wachstum auszugleichen. Die große Herausforderung ist also, wesentlich effizienter mit Energie umzugehen.

Wachstum und gleichzeitige Umstellung auf grüne Energie ist also kaum möglich?
2050 soll die globale Wirtschaft doppelt so groß sein wie heute. Allein diesen Zuwachs um 100 Prozent erneuerbar zu schaffen, ist eine riesige Herausforderung. Zusätzlich auch noch den bestehenden fossilen Energiebedarf zu ersetzen ist sehr schwierig. Außerdem müssen auch die Anlagen für die Erneuerbaren errichtet werden, was wiederum Energie und verschiedene oft seltene Rohstoffe braucht. Um wirklich etwas am Energiesystem zu ändern, muss die Nachfrage nach Energie verringert werden.

Ist das eine technische Frage oder eine Frage des Verhaltens?
Es ist vielfach einfach eine Frage der Prioritätensetzung. Bei vielen Produkten wurde der Energieverbrauch sowohl in der Produktion als auch im Betrieb bisher nicht als sonderlich wichtig eingestuft, weil der Preis keine so große Rolle spielte. Hier muss sich das Industriedesign ändern. Auch die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen. Bisher hat jede Firma für sich selbst optimiert. Künftig wird es hier mehr Zusammenarbeit brauchen, um in Summe energiesparender zu sein. Und wenn ich nur die Hälfte brauche, ist auch eine Verdoppelung der Kosten je Einheit keine Verteuerung unter dem Strich.

Helfen höhere Energiepreise dennoch bei dieser Umstellung?
Natürlich steigt die wirtschaftliche Bedeutung von Effizienz, wenn die Preise höher sind. Auch Erneuerbare werden preislich attraktiver. Sie sind in vielen Ländern bereits die günstigste Form, um Energie zu produzieren. Aber der Ausbau ist noch nicht stark genug. Zudem würden wir angesichts des Klimawandels auch Technologien brauchen, von denen wir uns eigentlich verabschieden wollten wie Atomkraft. Denn auch hier gibt es starke technologische Entwicklungen.

Wie realistisch ist es denn, dass die Welt 2050 CO2-neutral ist, wie das politische Ziel lautet?
Um das zu schaffen, muss man an mehreren Hebeln ansetzen. Zuerst einmal den weitestmöglichen Umstieg auf Erneuerbare. Das allein wird aber nicht reichen. Also werden wir zusätzlich auch bereits emittiertes CO2 wieder aus der Atmosphäre holen und speichern müssen. Hier gibt es bereits unterschiedliche Technologien.

Bei der Energiewende geht es vor allem um die Elektrifizierung. Wo soll all der Strom herkommen?
Es wird hier nicht nur eine Technologie geben. Es wird viel aus Erneuerbaren inklusive der Wasserkraft kommen. Ein Teil weiterhin aus Atomkraft. Und mit Carbon Capture (der Abscheidung von CO2 und Speicherung unter der Erde, Anm.) wird auch Gas noch eine Zeit lang ein wichtiger Energieträger bleiben. In weiterer Folge wird Wasserstoff ein solcher werden.

Wasserstoff muss aber immer erst vom Menschen produziert werden.
Es gibt hier viele Ideen, beispielsweise Europa aus Nordafrika mit Energie zu versorgen. Das kann über Pipelines oder über Tanker erfolgen. Das Gute an Wasserstoff ist, dass er auch über das bestehende Gasnetz transportiert werden kann. Neue Lieferantennetze zu schaffen ist jedenfalls sinnvoll, aber man muss dabei auch auf Diversifizierung achten. Denn wir haben jetzt alle gelernt, dass es nicht gut ist, wenn man von einem Land und einem Energieträger abhängig ist. Das Ganze muss zudem auch möglichst ökonomisch sein. Sowohl hinsichtlich der finanziellen Aspekte als auch hinsichtlich des CO2-Austoßes. Wir müssen also auch auf die Emissionen bei Produktion und Transport achten. Das gilt für jegliche eventuell neu zu errichtende Infrastruktur.

Kann Europa auch selbst durch die Energiewende unabhängiger werden? Werden wir mehr Energie produzieren als jetzt?
Ja, das ist durchaus möglich. Wir haben nicht nur sehr viel Sonne im Süden Europas, sondern auch viel Wind im Norden. Es ist also durchaus denkbar, dass Europa hier auch ein bisschen mehr Unabhängigkeit erhält. Was aber illusorisch ist, dass wir komplett ohne Energieimporte auskommen werden.

Derzeit leben sieben Milliarden Menschen noch auf einem wesentlich niedrigeren Lebensstandard als wir. Werden diese auch einmal so wie die Menschen in Europa oder den USA leben können?
Ich würde hier zwischen Europa und den USA schon unterscheiden. In Amerika gehen die Verkaufszahlen für große SUVs immer noch nach oben, sobald Benzin günstiger wird. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen. Könnten alle acht Milliarden Menschen einen ordentlichen Lebensstandard haben? Ja, das ist möglich, aber nur, wenn wir das Thema der Energieintensität auch ordentlich adressieren. Wenn wir für die Produktion von Gütern weniger Energie brauchen, können wir einfach mehr davon herstellen.

Zur Person Roberto Bocca ist seit 2009 Head of the Centre for Energy and Materials sowie Mitglied des Executive Committe des World Economic Forums. Der Italiener studierte Wirtschaft an der Universität Turin und war nach Beschäftigungen bei Unifarma, Finsonsumo und der Telecom Italia 15 Jahre für den britischen Öl- und Gaskonzern BP in verschiedensten Funktionen tätig.

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