Wie erwartet einigte sich die Regierung mit Verspätung darauf, den Unternehmen sieben Milliarden Euro an Steuern nachzulassen. Die Industrie zeigt sich trotzdem enttäuscht. Ihr drängendstes Wettbewerbsproblem bleibt ungelöst.
Wer am Mittwochmittag vor das Brandenburger Barockschloss Meseberg nördlich von Berlin reiste, fand sich ein Stück weit in einer Parallelwelt wieder. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Gästehaus der deutschen Bundesregierung stand der Kanzler und fand alles prima. „Die Leistungsbilanz ist gut“, sagte Olaf Scholz (SPD) über seine eigene Arbeit. Was er zur schlechten Stimmung im Rest des Landes, weit weg von Meseberg, sage, will eine Journalistin wissen. „Ich habe eigentlich die Antwort auf die Frage gegeben“, behauptete Scholz – und ließ ratlose Gesichter zurück.
Zwei Tage hatte sich die deutsche Regierung ins Brandenburger Schloss zurückgezogen, das erste Mal nach der Sommerpause. Als sie wieder aus den Toren heraustrat, legte sie einen „Zehn-Punkte-Plan“ vor, mit dem sie den deutschen Wirtschaftsstandort attraktiver machen wollte. Richtig unerwartet und neu war dabei nichts: Digitalisierung, weniger Bürokratie, schnellere Bescheide, mehr Facharbeiter, mehr Zuwanderer, mehr Forschung, mehr Bildung, mehr Freihandel, mehr erneuerbare Energie, weniger Steuern.
Sieben Milliarden Euro pro Jahr hat Finanzminister Christian Lindner (FDP) für den letzten Punkt veranschlagt, den er in seinem „Wachstumschancengesetz“ zusammenfasst. Die Summe soll über leichtere Abschreibungen, Investitionsprämien und einen längeren Zeitraum für den Verlustvortrag zusammenkommen. Der Gesetzesentwurf dazu hätte bereits vor zwei Wochen durchs Kabinett gewunken werden sollen, aber Familienministerin Lisa Paus (Grüne) legte sich quer, weil sie mehr Geld für ihre eigenes Gesetz herausschlagen wollte, die Kindergrundsicherung. Der Erpressungsversuch scheiterte. Paus bekam eine fast schon symbolische Summe von 400 Millionen Euro mehr – gefordert hatte sie einmal ein Plus von zehn Milliarden.
„Tropfen auf dem heißen Stein“
Ein Problem wurde auf Schloss Meseberg nicht gelöst: der hohe Strompreis. Mehrere Vorschläge standen im Raum: Die Regierung sollte ausgewählte Industriekonzerne subventionieren, sie könnte die Stromsteuer senken oder eine mit Ende des Jahres auslaufende Entlastung für energieintensive Betriebe beibehalten. Angekündigt wurde keine der drei Varianten.
„Was in Meseberg beschlossen wurde, geht in die richtige Richtung, reicht aber bei Weitem nicht aus“, ließ der Bundesverband der Deutschen Industrie, eine Lobby-Organisation, am Mittwoch wissen. „Das Ausbleiben von jeglichem Instrument, das in der aktuell schwierigen Lage Stromkostenbelastungen reduziert, ist fatal.“ Die Steuerentlastung durch Lindner sei „ein Tropfen auf dem heißen Stein“.
Dass in der Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, deutete der grüne Wirtschaftsminister, Robert Habeck, an. Er sei weiter in Gesprächen mit der EU-Kommission, ob der von ihm anvisierte Industriestrompreis mit den europäischen Wettbewerbsregeln vereinbar sei. Habeck hatte vorgeschlagen, ausgewählten Betrieben einen Einkaufspreis für Strom von sechs Cent pro Kilowattstunde zu garantieren. Liegt der Markt darüber, soll der Staat den Unterschied mit Steuergeld ausgleichen. 30 Milliarden Euro würde die Maßnahme bis zum Jahr 2030 kosten.
Auch die SPD-Parlamentarier hatten am Montag ein Papier verabschiedet, in dem sie einen garantierten Strompreis für einzelne Industriebetriebe fordern. Er soll bei fünf Cent pro Kilowattstunde liegen. Kanzler Scholz zeigte sich bisher skeptisch, Finanzminister Lindner lehnt das Konzept ganz ab.
Spitze gegen die Grünen
Letzterer bedachte die Grünen am Rande der Klausur mit einer kleinen Spitze: Er finde es befremdlich, die letzten Atomkraftwerke abzuschalten und danach teuren Strom subventionieren zu wollen. Was er nicht erwähnte: Die strategische Entscheidung zum Ausstieg aus der Nuklearkraft wurde im Jahr 2011 von CDU und FPD getroffen.
Zwar sind die Strompreise nach dem Schock des vergangenen Jahres wieder gesunken. Wenn die Gaskraftwerke anspringen, liegen sie aber weiterhin über dem Durchschnitt, der vor dem russischen Angriff auf die Ukraine üblich war.
Die deutsche Regierung will schneller Windkraft, Solar und Stromleitungen von Nord nach Süd ausbauen, läuft aber bisher ihrem Zeitplan hinterher. Wirtschaftsminister Habeck fürchtet, Industriebetriebe könnten noch in diesem Jahr ihr Geld in Standorte außerhalb Deutschlands stecken. Deswegen nennt er die von ihm geforderte Subvention einen „Brückenstrompreis“: Er soll die Betriebe im Land halten, bis genug Windräder und Solaranlagen laufen, um den Strompreis zu drücken.
von CHRISTOPH ZOTTER
Die Presse