Energie: Europa saugt die Welt aus

7. September 2023, Wien

Der Wechsel zu sauberer Energie dauert zu lang. Neben Geld fehlt es an Koordinierung. Manch „gute Idee“ im Westen bringt unerwünschte Nebenwirkungen am anderen Ende der Erde.

Im Grunde liegen alle Fakten längst auf dem Tisch: Will die Menschheit die Erderwärmung eindämmen, muss sie sich so bald wie möglich von ihren gewohnten Energieträgern verabschieden. Es wäre nicht das erste Mal, und doch ist alles anders: Der Aufstieg der Kohle zur wichtigsten Energiequelle der Welt dauerte 50 Jahre, der Siegeszug des Erdöls immerhin noch 35 Jahre. So lang darf der Wechsel zu klimafreundlichen Technologien wie Sonne, Wasser und Wind nicht dauern, warnen die Autoren einer Studie der Boston Consulting Group (BCG).

Der Sturz der beiden fossilen Könige des Energiesystems müsse dreimal schneller gelingen als im historischen Vergleich. Ansonsten sei die „zunehmend unwahrscheinliche“ Erfüllung der Klimaziele endgültig außer Reichweite, so die Berater. Zusätzlich zu den versprochenen 19 Billionen Dollar (17,7 Billionen Euro) müssten Unternehmen und Staaten bis 2030 weitere 18 Billionen Dollar in den Bau grüner Kraftwerke und Infrastruktur investieren, so die Forderung. Aber Geld allein löst das Dilemma nicht. Auch der unkoordinierte Wettlauf der Nationen in Sachen (grüner) Energiepolitik schadet mitunter mehr, als er nützt. Das anschaulichste Beispiel dafür lieferte Europa.

Europa hamstert Energie

Seit dem Energiekrisenjahr 2022 kaufen die EU-Staaten nämlich so gut wie jeden Tanker voll mit Flüssiggas (LNG) auf, um den Abschied vom Hauptlieferanten Russland zu schaffen, ohne flächendeckend Kohlekraftwerke hochfahren zu müssen. Bis 2025 wird die EU etwa 70 Prozent des gesamten Flüssiggases auf dem Markt kaufen, schätzen die Autoren. Mit allen Konsequenzen für den Rest der Welt.

Schon in den vergangenen Monaten konnten sich Länder wie Pakistan, die in ihrer Stromversorgung auf Flüssiggaslieferungen angewiesen sind, das LNG nicht mehr leisten und legten bei ihrer eigenen Energiewende den Rückwärtsgang ein, um nicht ohne Strom dazustehen. Pakistan stoppte im Vorjahr den Bau neuer Gaskraftwerke und verbrannte dafür viermal mehr klimaschädliche Kohle als vorgesehen. Thailand, das ebenfalls zwei Drittel seines Stroms mit Gas produziert, setzte die bereits geplante Schließung von Kohlekraftwerken angesichts des drohenden Mangels aus. „Europa saugt anderen Ländern das Gas ab“, kritisierte die Credit Suisse. Unter den Leidtragenden ist (auch) das Weltklima.

Denn so schnell können viele Schwellen- und Entwicklungsländer Wind- und Solarparks gar nicht aufstellen, um die Lücke in der Gasversorgung mit wirklich grüner Energie zu stopfen. Stattdessen greifen sie eben auf die bewährte Kohle zurück. Dieser Trend ist nicht auf arme Staaten beschränkt, sagen die Experten von Ember: Die zwanzig größten Volkswirtschaften (G20), die gemeinsam für 80 Prozent der Emissionen aus dem Stromsektor stehen, haben ihren Pro-Kopf-Ausstoß durch das Verstromen von Kohle seit 2015 um sieben Prozent gesteigert.

China baut Kohle weiter aus

China, der größte Kohlekonsument der Welt, verschlechterte seine Bilanz gar um 30 Prozent. Und das, obwohl das Land seit 2015 rund 670 Gigawatt an Erneuerbaren ausgebaut hat. Erst kürzlich irritierte die Volksrepublik mit der Ankündigung, weiter im Schnitt rund zwei neue Kohlekraftwerke pro Woche bauen zu wollen.

Aber auch Industrienationen wie Australien haben Probleme mit dem versprochenen Kohleausstieg. Das Land verbraucht pro Kopf dreimal so viel Kohle wie der internationale Schnitt und merkt gerade, dass der Umstieg auf Sonne und Wind nicht so reibungslos verläuft wie erhofft. Eine der größten Herausforderungen sei, „den Energiemix so schnell wie nie zu ändern, ohne dass die Lichter ausgehen“, sagt Chris Minns, Premier des Bundesstaats New South Wales. Kritiker monieren freilich, dass Australien schlicht zu wenig Geld in den Erneuerbaren-Ausbau stecke und deshalb in Bedrängnis komme.

Mittelfristig werden Sonne und Wind die Lösung sein, daran lassen auch die Autoren der BCG-Studie keinen Zweifel: Für jedes Gigawatt an neuer Windkraft in der Nordsee spare sich Europa ab 2030 jedes Jahr bis zu vier Millionen Tonnen CO2 oder zehn Tanker voll LNG.

von Matthias Auer

Die Presse