IIASA-Generaldirektor: „Fahren Klimasystem an die Wand“

1. Dezember 2023, Laxenburg/Wien/Dubai
IIASA-Generaldirektor Hans Joachim Schellnhuber im APA-Interview
 - Laxenburg, APA/GEORG HOCHMUTH

Klimapositive Maßnahmen sollen helfen, bereits ausgestoßene Treibhausgase der Atmosphäre wieder zu entziehen. Ein Ansatz und künftiger Schwerpunkt am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg (NÖ) ist, „die gebaute Umwelt – Häuser, Städte, Landschaften – langsam in organische Masse zu verwandeln“, sagte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, der mit Freitag (1.12.) den Posten des Generaldirektors übernommen hat, im Gespräch mit der APA.

APA: Was war Ihre Motivation für den Wechsel ans IIASA? Was ist das Besondere an diesem Institut?

Schellnhuber: Ich habe gar nicht daran gedacht, diesen Wechsel vorzunehmen. Ich bin jetzt 73 Jahre alt und habe drei Einrichtungen nicht nur gegründet, sondern versucht, sie international weit voranzubringen. Aber dann ist man an mich herangetreten, und ich habe mich mit dem aktuellen Zustand des IIASA und der Aufgabe, die es erfüllen soll, befasst. Ich fand die Herausforderung spannend und bin letztendlich auf sehr charmante Weise überredet worden. Die Entscheidung hat natürlich auch mit der Mission des IIASA zu tun.

APA: Wie schätzen Sie die aktuelle Bedeutung des IIASA ein?

Schellnhuber: Das IIASA wurde 1972 auf Initiative der USA und der UdSSR gegründet, um mitten im Kalten Krieg eine wissenschaftliche Brückenfunktion zwischen Ost und West einzunehmen. Die Brücken, über die man jenseits des Schlachtenlärms gehen konnte, sollten Vernunft, Wissenschaft und Kultur sein. Heute stellen wir fest, dass die Konfrontationen noch viel bestürzender geworden sind. Wir leben in einer konfusen, multipolaren Welt, in der das IIASA eine noch viel wichtigere Rolle spielen kann. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der Angriff auf Israel durch die Terrororganisation Hamas erscheinen als schier unauflösbare Krisen. Wie kann man überhaupt noch eine Verständigung erreichen? Beim IIASA aber können sich beispielsweise Forscher aus Israel und der arabischen Welt bzw. Russen und Ukrainer noch begegnen, ohne direkt in politischen Streit zu geraten. Russland, die Ukraine, der Iran und Israel sind Mitglieder des IIASA. Dass die Zahl 3 größer ist als die Zahl 2, also elementare mathematische Logik, werden sie alle akzeptieren. Da scheint es möglich zu sein, sich jenseits von Politik, Ideologie und religiöser Position als Menschen zu begegnen, die nach der Wahrheit suchen.

APA: Welche Pläne und Visionen haben Sie für das IIASA?

Schellnhuber: Hier steht im Vordergrund, wie man Systemanalyse in den 2020er-Jahren durchführen und zur Entschärfung von Konflikten einsetzen kann. In der gegenwärtigen Weltsituation werden wir auf neuartige Weise darüber nachdenken, wie Verhandlungen konstruktiv mit Unterstützung der Wissenschaftsdiplomatie geführt werden können. Bei der Spieltheorie der 1970er-Jahre ging es früher etwa darum, wie man vermeidet, dass der Gegner zum atomaren Erstschlag ausholt. Die Situation war mit zwei Spielern, der Sowjetunion und den USA, aber wesentlich einfacher als heute. Jetzt gibt es mit neuen regionalen Mächten, aber auch Künstlicher Intelligenz (KI) und Quantencomputern neue Größen. Vielleicht werden Abrüstungskonferenzen in 20 Jahren von Algorithmen durchgeführt und Österreich schickt seine beste KI. Das IIASA wird sich in diesem Bereich wieder auf den allerneuesten Stand bringen, weil konventionelle Spieltheorie hier nicht mehr funktioniert.

APA: Am 30. November hat die UNO-Klimakonferenz COP28 in Dubai begonnen. Welche Erwartungen haben Sie an die Veranstaltung?

Schellnhuber: Dort wird – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – davon gesprochen, dass man die Hoffnung am Leben halten will, dass das 1,5-Grad-Ziel wenigstens in Reichweite bleibt. Es soll also bei der COP kein Plan entwickelt werden, wie wir die 1,5-Grad-Linie halten, ja nicht einmal, dass dieses Ziel noch in Reichweite bleibt. Nur die Hoffnung darauf will man nicht aufgeben! Dieses Jahr zeigt uns aber das Klimasystem, dass wir direkt an die Wand fahren. Wir haben Daten, da gefriert einem das Blut in den Adern, und bei der Klimakonferenz wird darüber geredet, dass wir die Hoffnung bewahren wollen.

APA: Der vor 15 Jahren von Ihnen geprägte Begriff der „Tipping Points“ ist Teil der Klimaforschung geworden. Wann werden wir den Kipppunkt bezüglich des 1,5-Grad-Ziels überschritten haben?

Schellnhuber: Spätestens im wenigen Jahren, vielleicht schon in diesem. Das zeigt, in welch prekärer Situation wir uns befinden. Das gleiche gilt für die Biodiversität: Wir sind mitten im Sechsten Artensterben, diesmal vom Menschen verursacht. Der Verlust der fruchtbaren Böden fliegt sowieso völlig unter dem Radar der aktuellen Politik. Wir sind auf einem Kurs, der unsere Zivilisation gefährdet und die bisherigen politischen Maßnahmen entsprechen dieser Gefahr in keiner Weise. Wir befinden uns gewissermaßen auf der Titanic und wissen sogar, dass da gewaltige Eisberge sind, aber bisher will niemand den Kurs ändern. Es ist Aufgabe des IIASA, hier klare Lotsenposition zu beziehen.

APA: Sie fordern klimapositive Maßnahmen und nicht nur klimaneutrale, um bereits ausgestoßene Treibhausgase der Atmosphäre wieder zu entziehen.

Schellnhuber: Wir werden beim jetzigen Kurs in 20 bis 40 Jahren über die Zwei-Grad-Linie hinausschießen, wodurch viele Systeme kippen könnten. Die Erwartung ist, dass wir Letzteres vermeiden, wenn das Überschreiten der Linie flach ausfällt, wir also die Erderwärmung beispielsweise im Jahr 2050 bei 2,3 Grad zum Stillstand bringen. Voraussetzung dafür ist das Zurückfahren der globalen Emissionen bis 2040 auf null. Dann könnte man daran arbeiten, sich in den kommenden zweihundert Jahren wieder in Richtung ein Grad zurückzubewegen, was die Wissenschaft für ein zivilisationsverträgliches Niveau hält. Dafür müssen wir jedoch aktiv CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen!

APA: Wie soll das konkret gelingen?

Schellnhuber: Derzeit wird vor allem über sogenannte Geoengineering-Maßnahmen nachgedacht, wo man beispielsweise mit zehntausenden chemischen Filtern zu enormen Kosten die Atmosphäre von Kohlenstoff reinigt. Unser Ansatz und ein künftiger Schwerpunkt des IIASA ist, dass wir über die gebaute Umwelt – Häuser, Städte, Landschaften – das Klimaproblem entschärfen. Nachhaltigkeit hat sich bisher auf die Energiesysteme fokussiert. Über die Materialströme hat man kaum nachgedacht. Ein Einfamilienhaus wiegt etwa 100 Tonnen, das bedeutet 100 Tonnen CO2-Emissionen. Würde Stahlbeton durch Holz oder Bambus ersetzt, hätte man nicht nur 100 Tonnen eingespart, sondern 200, weil nachhaltige Forstwirtschaft über die Photosynthese CO2 aus der Atmosphäre entnimmt. Wir müssen die gebaute Umwelt langsam in organische Masse verwandeln und uns quasi durch eine regenerative Architektur aus der Klimakrise herausbauen. Das ist die langfristige Vision und das IIASA soll die weltweit führende Institution werden, die darüber forscht und dazu kommuniziert.

APA: Wie stehen Sie zum Aktivismus rund um den Klimaschutz? Sehen Sie Forschende in der Pflicht, sich hier zu engagieren?

Schellnhuber: Die Klimawissenschaftler sind ungewollt in die Situation geraten, dass sie durch ihre Forschung zivilisationsrelevante Informationen haben, die sie weitergeben müssen. Wir haben die Verantwortung des Wissens auf unsere Schultern geladen und dürfen das nicht nur unter Fachleuten diskutieren. Wir müssen sogar Werturteile fällen, in dem Sinn, dass es etwas ist, das unsere Grundwerte, unsere Freiheit bedroht und unsere Zivilisation zerstören könnte. Wir müssen den Politikern dringliche Empfehlungen geben, damit sie endlich aus ihren Lehnstühlen kommen. Aber das ist für mich alles noch kein echter Aktivismus. Der Zeitpunkt für zivilen Ungehorsam, wo sich auch Wissenschafter ankleben oder verhaften lassen, ist noch nicht erreicht und wird hoffentlich auch nie erreicht werden. Aber wir sollten noch viel unbequemer und zu einem quälenden Gewissen der Politik werden.

(Das Gespräch führte Stefan Thaler/APA)

(ZUR PERSON: Hans Joachim Schellnhuber, am 7. Juni 1950 in Ortenburg (Deutschland) geboren, studierte Physik und Mathematik an der Universität Regensburg. Nach einer Postdoc-Stelle an der University of California, Santa Barbara (USA) war er Professor an den Universitäten Oldenburg und Potsdam sowie an der University of East Anglia, Norwich (UK). Als Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) leitete Schellnhuber das Institut von 1992 bis 2018. Per 1. Dezember 2023 wechselte er an das Internationale Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien, das 1972 auf Initiative der USA und der UdSSR gegründet wurde, um eine wissenschaftliche Brückenfunktion zwischen Ost und West einzunehmen.)

APA

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