Rund um Energiegemeinschaften ist in Österreich ein Hype ausgebrochen, ihre Zahl wächst rasant. Seit kurzem können sich Haushalte landesweit mit Erzeugern vernetzen, um Strom zu kaufen und zu verkaufen. Die Idee hat Potenzial, sagen Experten. Kann sie den Strommarkt revolutionieren?
Bei manchen Ideen lässt sich ihr Potenzial im Vorhinein abschätzen. Bei dem, was Anna Schörnig vorhat, ist das nicht der Fall. Vielleicht scheitert ihr Projekt. Vielleicht trägt es dazu bei, den Strommarkt zu revolutionieren. Jahrelang hatte die frühere Qualitätsmanagerin eines Spitals mit Energie nichts am Hut. Jetzt will sie es als Quereinsteigerin wissen. Vor wenigen Wochen hat Schörnig mit einer Freundin ihre eigene Bürgerenergiegemeinschaft namens Sisi-Strom gegründet.
Die Idee hinter dem Projekt ist simpel: Bürgerinnen und Bürger vernetzen sich untereinander und mit kleineren Energieerzeugern irgendwo in Österreich und gründen einen gemeinsamen Verein, um Strom zu kaufen und zu verkaufen. „Wir wissen, woher unser Strom kommt und wer ihn erzeugt. Strom wird etwas ganz Persönliches“, sagt Schörnig in ihrem künftigen kleinen Büroraum am Wiedner Gürtel, gleich gegenüber dem Hauptbahnhof. „Das ist die Energiewende live.“
Das Ganze ließe sich als Phrasendrescherei abtun, doch Schörnig ist mit ihrer Begeisterung nicht allein. Da sind viele, die ticken wie sie. Rund 150 Kilometer weiter westlich steht der Unternehmer Richard Hanger vor seinem Sägewerk in der Gemeinde Ybbsitz und schwärmt. Auch er gehört seit kurzem einer Energiegemeinschaft an, nicht als Abnehmer, sondern als Stromlieferant. Hanger hat direkt neben seinem Sägewerk sein eigenes Wasserkraftwerk und verfügt auch über eine große Solaranlage auf dem Werksdach.
Niemand diktiert die Preise
Einen Teil des Stromes braucht er selbst, um Holz zu trocknen und in einer Art Dampfkammer zu behandeln, damit es uriger aussieht. Den Rest verkauft er an die soeben gegründete regionale Energiegemeinschaft Emmicom Gresten. Der Unternehmer Hanger klingt fast wie ein linker Idealist, wenn er über die Energiegemeinschaft spricht. Warum er mitmacht? „Wir brauchen uns nicht von Börsen oder irgendwelchen Konzernen den Strompreis vorschreiben lassen“, sagt er. „Das ist die Demokratisierung des Strommarktes.“
Das Potenzial von Energiegemeinschaften wird in Österreich seit Jahren diskutiert. Seit 2021 gibt es bereits die Möglichkeit, solche Gemeinschaften zu gründen. Zuerst tat sich allerdings wenig. Bis Ende 2022 gab es österreichweit gerade 165 Energiegemeinschaften. Doch plötzlich ist ein Boom ausgebrochen. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 1000 Energiegemeinschaften neu gegründet. Der Boom hält an. Wer in und um Amstetten unterwegs ist, sieht beispielsweise Aushänge für Infoabende zur Gründung neuer Vereine. In vielen Regionalzeitungen wimmelt es von Berichten zu neuen Gemeinschaften.
Mitmachen können Privatpersonen, Gemeinden sowie mittelständische Unternehmen. Sie müssen einen Rechtsträger für ihre Aktivitäten schaffen, meist einen Verein oder eine Genossenschaft, erklärt der auf Energiefragen spezialisierte Wiener Anwalt Florian Stangl. Die Gemeinschaft muss Versorger finden, die Strom liefern. Das dürfen keine Energiekonzerne sein, sondern kleinere und lokale Erzeuger, wie eben ein Sägewerk oder ein Einfamilienhaus mit überschüssigem Strom aus Photovoltaik. Untereinander muss sodann geregelt werden, wer wie viel Strom zu welchem Preis bekommt und verkauft. Der Verein entscheidet selbst. Das ist gemeint, wenn von der „Demokratisierung“ des Strommarktes gesprochen wird.
Der Gründungsboom hat mehrere Ursachen. Seit Ende 2023 ist es erstmals technisch möglich, Energiegemeinschaften zu gründen, bei dem Versorger und Stromabnehmer in einer ganz anderen Region sind. Bis dahin gab es nur lokale Gemeinschaften: Das Sägewerk Hanger und ein paar andere Erzeuger versorgen Haushalte im selben Netzgebiet. Bei den neuen Bürgerenergiegemeinschaften kann hingegen jeder mitmachen.
Sisi-Strom hat beispielsweise bisher drei Versorger gefunden, die Strom liefern: eine Kärntner Firma, ein Landwirtschaftsbetrieb in Niederösterreich, ein Einfamilienhaus in Purkersdorf. Die Abnehmerinnen und Abnehmer bei Sisi sind bisher ein paar Haushalte in Wien. Aber im Prinzip kann sich jeder in Österreich anmelden.
Viele, die mitmachen, sind also Feuer und Flamme – aber welches Potenzial hat die Idee abseits der ideellen Begeisterung? Vielleicht lässt sich diese Frage anhand des Bauernhofs von Alfred Luger ganz gut beantworten.
Der niederösterreichische Milchbauer, der die Besucher aus der Stadt gleich einmal in seinen Stall einlädt, „damit ihr auch mal eine Kuh gesehen habt“, ist Landwirt, Forstwirt und, wie er sagt, seit kurzem „Energiewirt“. Auf dem Dach seiner Scheune für seine 40 Kühe ist eine 40 mal 13 Meter große Photovoltaikanlage installiert. 80.000 bis 100.000 Kilowattstunden Strom erzeugt er hier pro Jahr, etwa ein Viertel davon braucht er selbst. Den Rest verkauft er an eine weitere regionale Energiegemeinschaft namens Emmicom, eine Schwester der erwähnten Emmicom Gresten. Einmal, weil ihm der Gedanke gefällt, dass sein Strom regional genutzt wird. Regionale Abnehmer für seine Milch zu finden sei ihm nie gelungen, das schmerzt ihn bis heute. Das wohl wichtigere Argument: Die Sache bringt Geld.
Gut 20.000 Euro hat der Landwirt durch Stromverkauf an die Energiegemeinschaft allein im vergangenen Jahr dazuverdient, sagt er. Hier liegt laut Befürwortern der Idee der Clou des Konzepts: Dank Photovoltaikanlagen, deren Kapazität in Österreich rasant wächst, erzeugen immer mehr Haushalte, landwirtschaftliche Betriebe und Unternehmen Strom selbst. Auch der Ausbau der Windkraft schreitet voran. Wenn jeder Erzeuger einen Teil der Energie für sich verbraucht und auch noch Abnehmer beliefert, sind die Möglichkeiten unbegrenzt: Nicht nur jedes Dach, jedes abgelegene Stück Land wäre ein Business-Case für neue Photovoltaikanlagen.
Gefallene Preise beflügeln Bo0m
Das Ganze hätte einen volkswirtschaftlich erwünschten Nebeneffekt. Wenn mehr Energie in Österreich produziert wird und Haushalte von Gas auf Strom wechseln sowie die E-Mobilität voranschreitet, müssen wir weniger Gas und Öl einkaufen – gut fürs Klima. Es bedeutet zudem auch, dass keine Milliarden mehr in Richtung Russland und ölreicher Golfstaaten abfließen. Wir geben eine Summe in Höhe von fünf Prozent der Wirtschaftsleistung für diese Importe aus. Jahr für Jahr. Eigenständigkeit wäre ein Wohlstandsturbo.
Manche Energiegemeinschaften investieren selbst in Photovoltaikanlagen oder bauen Windräder. Der erwähnte Verein Emmicom hat neben dem Milchbauern Alfred Luger noch einen großen Lieferanten: Auf dem Dach eines örtlichen Pferdehofes befindet sich eine große Solaranlage. Sie wurde extra errichtet, um Strom zu verkaufen.
Besonders für Gemeinden sind Investitionen interessant. Das Argument dafür, im Ort ein Windrad aufzustellen, ist stärker, wenn ein Teil des Stromes günstig lokal an die Anrainer verkauft werden kann. Deutlich häufiger kommt aber vor, dass Anbieter mit schon bestehenden Anlagen ihre Energie an Gemeinschaften verkaufen.
Interessanterweise beflügelt die aktuelle Preisentwicklung diesen Trend. Wer seinen Strom einspeisen will, hat in Österreich vereinfacht gesagt zwei Möglichkeiten: Der wichtigste Abnehmer ist eine teilstaatliche Gesellschaft, die OeMAG. Sie zahlt für jede Kilowattstunde Strom an private Erzeuger leicht über dem Marktpreis. In der Krise, nach Beginn des Ukrainekriegs, sind die Energiepreise massiv gestiegen. 50 Cent bot die OeMAG zwischenzeitlich für Strom an. Inzwischen liegt der Preis bei nur noch um die sechs Cent. Energiegemeinschaften bieten privaten Versorgern etwas höhere Tarife an und machen es damit attraktiver für Landwirte oder Unternehmen, den Strom an sie zu verkaufen. Der Anstieg der Preise hat zuerst viele Menschen für das Thema Energie sensibilisiert. Aber erst ihr Absinken führt nun dazu, dass kleine Stromproduzenten aktiv Gemeinschaften suchen, um dort ihren Strom hinzuverkaufen. Das hat also den Boom befeuert.
Die Entwicklung wirft viele Fragen auf, die sich noch nicht mit Sicherheit beantworten lassen. Eine lautet, ob sich Energiegemeinschaften tatsächlich so unabhängig von den Strombörsen machen können, wie sie behaupten. Sollten die Preise wieder steigen, wird es für Sägewerkbetreiber wie Richard Hanger und Landwirte wie Alfred Luger interessanter, Strom anderwertig zu verkaufen.
Sie werden dann mehr Geld verlangen von den Abnehmerinnen und Abnehmern in Energiegemeinschaften. Idealismus hin oder her, es sind ja auch Geschäftsleute. Ganz unabhängig machen vom Markt kann man sich also nicht. Damit würde jedenfalls der Preis in Bürgerenergiegemeinschaften steigen. Ob die Preise in den Vereinen also stabiler sind für Abnehmer, weil hier ein Börsenpreis direkt keinen Einfluss hat, muss sich erst zeigen.
Mit dem Preis ist das sowieso so eine Sache. Die Vereine hinter den Gemeinschaften sind als Non-Profit-Organisationen aufgebaut, müssen also keine Margen verdienen. Das macht sie im Prinzip attraktiver für Kundinnen und Kunden. Zugleich gibt es auch für den Verein Kosten neben dem Einkauf der Energie: für Steuerberater, die interne Abrechnung. Sisi-Strom bietet Mitgliedern aktuell Strom für 16,5 Cent ohne Steuern an. Das ist günstiger als bei Wien Energie, wo es um die 20 Cent sind. Es gibt aber günstigere Angebote am Markt von etablierten Playern.
Die Energiegemeinschaften dürften die Beziehung der Kundinnen und Kunden zu den großen Lieferanten umkrempeln.
Sollte künftig eine große Zahl an Haushalten Gemeinschaften angehören, werden die Konzerne an Bedeutung verlieren, wenn auch nicht verschwinden.
Voraussetzung für eine Energiegemeinschaft ist ein Smart Meter, also ein digitales Gerät zur Erfassung des Stromverbrauchs. Der Ausbau bei Smart Meter schreitet voran, bis Ende des Jahres sollen laut Aufsichtsbehörde E-Control 95 Prozent der Anschlüsse über ein solches Gerät verfügen. Alle 15 Minuten erfasst der Smart Meter die Daten zum Stromverbrauch neu. Wenn in dieser Zeit die Energiegemeinschaft Strom produziert, wird dieser bezogen. Kommt von der Gemeinschaft kein oder zu wenig Strom, weil die Sonne nicht auf die Photovoltaikanlage scheint, kommt die Energie von angestammten Versorgern wie EVN oder Wien Energie.
If you can’t beat them
Sisi-Strom schätzt, 30 bis 50 Prozent des Kundenbedarfs abdecken zu können, wer neben Sonnenenergie auch Wind- und Wasser nutzen kann, kommt vielleicht auf höhere Werte. Seit Jahresbeginn ist es möglich, nicht nur einer, sondern mehreren Energiegemeinschaften anzugehören. Das verbessert die Versorgungslage potenziell.
Die Energiekonzerne bekommen also mehr Mitbewerber, verlieren Geschäft. „Die Lieferanten haben kein Interesse, dass die Bürgerbeteiligung bei der Stromerzeugung gestärkt wird. Sie waren bei Energiegemeinschaften sehr kritisch“, sagt der Anwalt Stangl.
Einige versuchen allerdings, daraus das Beste zu machen: Unternehmen wie die EVN bieten sich Energiegemeinschaften als Dienstleister an, um ihnen bei der Gründung und internen Verrechnung zu helfen.
Noch ein Wandel vollzieht sich, der nicht unterschätzt werden sollte, wie Christoph Dolna-Gruber von der Energieagentur, einem Thinktank, der die Politik berät, sagt. Die Energiegemeinschaften haben am Strommarkt einen Digitalisierungsschub gebracht.
Das werde in Zukunft wichtig sein, weil der Strommarkt mehr Flexibilität brauche. Ein Zukunftsszenario: Auf Dächern wird mit Photovolatikanlagen enorm viel Strom erzeugt, der dadurch für Kundinnen und Kunden um die Mittagszeit extrem günstig ist, während Preise in den Abendstunden höher sind. Das funktioniert nur, wenn die Prozesse solide digital aufgestellt sind. Gelänge es, massenhaft leistbare Speicher auf den Markt zu bringen, was in den kommenden Jahren passieren sollte, würde das den Wandel noch beschleunigen: Dann könnten Vereine ihren Strom speichern und abrufen, wann sie wollen.
Ein anderer Vorteil der regionalen Energiegemeinschaften aus Dolna-Grubers Sicht: Weil Strom lokal verteilt und verbraucht wird, reduziert das die Belastung der Netze.
Die Gemeinschaften boomen, weil Rahmenbedingungen stimmen. Wer mitmacht, gibt sich begeistert, Experten sehen Potenzial. Österreich ist beim Thema europaweit Vorreiter. Wobei auch kritische Einwände kommen. Der Energieexperte Lukas Stühlinger sagt, dass Gemeinschaften vor der Herausforderung stehen, dass sie sich „hochskalieren“ müssten: Statt immer neue Vereine, deren Errichtung mit Aufwand und Kosten verbunden sei, brauche es nun auch größere Gruppen. Das wird neue Probleme schaffen. Wenn nicht mehr 50, sondern 5000 Abnehmer mit ihren Lieferanten vernetzt werden müssen, wird die Abstimmung schwieriger. Wie viel Demokratie bleibt dann noch?
Damit Gemeinschaften wachsen, werden auch mehr Menschen mitmachen müssen, die keine Energienerds sind und sich nicht mit Vereinsfragen herumschlagen wollen. Es gibt erste Angebote, die Bürgerinnen und Bürger via App vernetzen. Damit ist natürlich der „persönliche“ Charakter schwer zu erhalten.
Das alles ist für die Sisi-Strom-Gründerin Anna Schörnig noch Zukunftsmusik. Seit dieser Woche wirbt sie online für Kunden, auch neue Stromerzeuger sucht sie. Man wolle langsam wachsen, wisse um die Herausforderungen. Dass die Energiegemeinschaft wächst, hofft auch Landwirt Alfred Luger, wie er sagt, während er übers hügelige Umland bei seinem Hof blickt. Die Vorstellung, die Wiese mit Photovoltaikanlagen vollzustellen, lässt ihn erschaudern. „Aber schauen Sie auf die vielen Hofdächer, wie viel Platz da noch ist.“
Der Standard