Was passiert nach der EU-Wahl mit Europas Klimapolitik? Wird der Green Deal verschwinden? Oder wie muss sich das Vorzeigeprojekt verändern, damit wieder mehr Menschen hinter ihm stehen?
Vor fünf Jahren war die Welt eine andere. Corona war noch eine mexikanische Biersorte, Strom kam billig aus der Steckdose und der Kampf gegen den Klimawandel stand in Europa politisch ganz oben. Die konservative Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hob den „Green Deal“ aus der Taufe. Ein Projekt, das die Weichen stellen sollte, um Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dann kamen die Pandemie, der russische Angriffskrieg, die Gaskrise, die Teuerungswelle – und das Prestigeprojekt kam zunehmend unter Beschuss. Die grüne Wende sei zu teuer, zu bürokratisch, schade den Betrieben. Nicht wenige Politiker versprechen ihren Wählern nun, den Green Deal wieder rückgängig zu machen. Was bedeuten die EU-Wahlen also für die Klimapolitik des Kontinents, der den Kampf gegen die Erderhitzung bis dato am konsequentesten vorantreibt? Hat der Green Deal ein Ablaufdatum, und wäre wirklich jemand besser dran, wenn er verschwindet?
Industrie steht dahinter.Matthias Buck, Europa-Chef von Agora Energiewende, glaubt das nicht: „In vielen der öffentlichen Diskussionen zum Green Deal wird dieses politische Projekt sehr stark verengt auf Klimaschutz. Dabei ist der Green Deal die wirtschaftliche Entwicklungsstrategie für Europa, in der Wettbewerbsfähigkeit, sozialer Ausgleich und Umwelt- und Klimaschutzbelange zusammengeführt werden.“ Weltweit zeichne sich ein „globaler Wettlauf zwischen den größten Industrienationen ab, um Wohlstand, Unabhängigkeit und Sicherheit durch die Ökologisierung zu stärken“, heißt es auch in einer aktuellen Studie des Kontext-Instituts für Klimafragen. Der Green Deal sei Europas Versicherung, um im Rennen mit den USA und China nicht den Anschluss zu verlieren.
Um die Unterstützung der Unternehmen muss Brüssel dabei nicht fürchten. Im Februar stellten sich 800 führende Konzerne des Kontinents mit der Erklärung von Antwerpen hinter den Green Deal. Europas Weg, Emissionen konsequent zu bepreisen und den Betroffenen im Gegenzug für die schmerzhafte Phase der Umstellung mit ausreichend Förderungen zu helfen, kommt hier gut an. 2039 wird die Industrie das letzte CO2-Zertifikat aus dem Emissionshandel kaufen können. Bis dahin muss der Umstieg auf eine klimaneutrale Wirtschaft erledigt sein. Das ist zwar eine steile Vorgabe, bietet aber immerhin Planungssicherheit. „Zentrale Teile der Industrie in Europa haben deutlich gemacht, dass sie hinter dem Green Deal stehen“, sagt Buck. „Wichtig ist nun, die industriepolitische Dimension des Green Deals weiterzuentwickeln, um Investitionen in die grüne Transformation in Europa abzusichern.“
Neuer Fokus, neuer Name? Eine komplette Demontage des Green Deals hält Kontext-Mitgründer Florian Maringer für unrealistisch. „Mehr als zwei Drittel des Green Deals sind abgeschlossen und beschlossen“, sagt er. Da gibt es klare Fristen, die von den Mitgliedsländern einzuhalten sind. Außerdem habe Europa keine echte Alternative. „Diese Veränderung wird passieren. Und man sollte den Menschen nicht vorgaukeln, dass man den Status quo konservieren kann.“ Europas wirtschaftliche Abhängigkeit von fossilen Energieimporten sowie die Ökologisierung der Weltwirtschaft zwingen den Kontinent zu Veränderung. „Ansonsten erodiert die Basis unseres Wohlstandes.“
Doch so wie der Green Deal heute dasteht, wird er die Wahlen angesichts der aufgeheizten Stimmung wohl nicht überleben (können). So wird die neue EU-Kommission ab Tag eins mit dem Feintuning beginnen müssen, die Wirtschaft ins Zentrum rücken und die strukturelle Abhängigkeit von China bekämpfen. Wichtige Hebel sind hier erleichterte Genehmigungsverfahren, öffentliche Beschaffung, die saubere, europäische Anbieter bevorzugt, „aber auch ein europäisch koordinierter Industriestrompreis könnte hilfreich sein“, so Buck.
Mehr als um die Unternehmer wird die neue Kommission aber um die Zustimmung der Menschen am Land kämpfen müssen. Das gilt für Bäuerinnen und Bauern, die zuletzt mit ihren Traktoren in Europas Hauptstädten protestiert hatten. Aber nicht nur für sie. Die für 2027 geplante Ausweitung des Emissionshandelssystems auf private Haushalte wird fossiles Heizen und Autofahren teurer machen. Und wieder dürften sich die Menschen am Land unter den größten Opfern wähnen. Ein Teil dieser Entwicklung ist auch der EU zuzuschreiben, sagen Kritiker. Anders als bei den Unternehmen habe es Brüssel verabsäumt, den Bauern zu erklären, welche Perspektive die grüne Wende ihnen gebe.
Landwirtinnen und Landwirte sind Unternehmer des ländlichen Raumes. Daher ist es wichtig, dass sie die Chancen erkennen können, die ihnen die Entwicklung zu einer klimaneutralen Wirtschaft bietet, beispielsweise durch die Produktion von Biomasse für eine klimaneutrale Industrie“, sagt Matthias Buck. Egal ob in Polen, Frankreich, Deutschland oder Spanien: Überall leiden ländliche Räume unter Absiedelung und der Ausdünnung an Infrastruktur. Der Green Deal darf sich nicht ankreiden lassen, dass er solche Prozesse verstärkt, sondern muss soziale Härte abfedern.
Tag der Wahrheit.Ob der Green Deal seine Ziele erreichen wird, werden wir erst vor den übernächsten EU-Wahlen sehen. „2030 sollten die ersten großen Investitionen in den Umbau zu einer klimaneutralen Industrie erfolgt sein“, sagt Matthias Buck. Dann werde auch klar, ob die Länder „die Einführung des einheitlichen CO2-Preises für Verkehr und Gebäude sozialverträglich gestaltet haben“. Vielleicht tut dem Green Deal am Weg dahin auch ein neuer Name gut. Schließlich kämpft manch Kritiker heute vor allem mit dem Wörtchen „grün“ im Deal. Besser hat es US-Präsident Joe Biden gemacht. Er verkaufte Amerika unter dem Namen „Inflation Reduction Act“ ein massives Subventionsprogramm für grüne Technologien und Energie, das viel bewegen, aber sicher nicht die Inflation reduzieren wird.
Vielleicht braucht der Green Deal auch einen neuen Namen.
von Matthias Auer
Die Presse