„Europa hat keine Chance, auf Erdgas zu verzichten“

21. März 2025, Oslo

Energie. Erst kein Gas von den Russen, dann gar kein Gas mehr. Kann Europa dieser Stunt gelingen? Wirklich einig sind sich die Politiker und Energieversorger auf dem Kontinent nicht.

Minus 160 Grad Celsius. Das ist die Temperatur, mit der sich Kenneth Olsen wünscht, dass die Flüssiggaslieferungen den Øra-LNG-Terminal erreichen. Tatsächlich ist das Gas „oft wärmer, meist minus 152 bis 158 Grad“, sagt der Norweger, der den Terminal in Fredrikstad für Gasum betreibt. Und das verursacht jede Menge Stress. Heruntergekühlt auf minus 160 Grad schrumpft Erdgas auf ein Sechshundertstel seines Volumens und lässt sich damit per Schiff aus jedem Winkel der Welt nach Europa bringen. Aber mit jedem Tag, den das Flüssiggas in Gasums Tanks lagert, wird es um ein Grad wärmer und dehnt sich weiter aus – bis es gefährlich wird.

Olsen muss sein „Produkt“ also rasch wieder loswerden. Egal, ob es nun flüssig als Treibstoff für Schiffe und Lastwagen verkauft oder regasifiziert ins lokale Gasnetz eingespeist wird: Es ist eine heikle Operation, die jede Woche hundertfach in Europa über die Bühne geht. Denn das LNG, das an Terminals wie Fredrikstad ankommt, ist Europas Antwort auf die Frage, wie sich der Kontinent ohne seinen alten Hauptlieferanten Russland künftig mit ausreichend Energie versorgen will.

Der Anteil der russischen Gasimporte nach Europa ist seit Kriegsbeginn in der Ukraine von über 40 auf 14 Prozent gesunken. 2027 soll die Abnabelung vollendet sein, so der Wunsch der EU-Kommission. Norwegen hat Moskau als größten Lieferanten abgelöst, aber ein gutes Drittel kommt tiefgekühlt mit dem Schiff vorwiegend aus den USA auf den Kontinent. Auch Russland hat seine Flüssiggaslieferungen in die EU zuletzt um ein Fünftel ausgeweitet.

Extra Millionen

„Für uns war es schon früh wichtig, aus russischem Gas auszusteigen“, sagt Wien-Energie-Chef Michael Strebl, der dieser Tage im hohen Norden nach Inspiration für die Transformation des stadteigenen Versorgers sucht. Für 2025 haben sich die Wiener das gesamte benötigte Erdgas überwiegend aus der Nordsee gesichert und dafür auch ein paar Millionen Euro extra draufgelegt. Für 2026 sind die Lieferungen noch nicht in trockenen Tüchern. Für Wien Energie ist das aber „nur der erste Schritt. Schritt zwei bleibt der komplette Ausstieg aus fossilem Gas“, so Strebl. Das könnte allerdings schwieriger werden als gedacht. Bis 2040 will das Unternehmen, das heute Strom und Wärme vorwiegend aus Erdgas erzeugt, komplett auf erneuerbare, emissionsfreie Energie umgestiegen sein. Wasser, Wind und Sonne sollen die Stromproduktion stemmen. Die Fernwärme stützt sich künftig auf Geothermie, Wärmepumpen und Müllverbrennung. Ein Viertel soll aber auch ein Gas-Kombi-Kraftwerk liefern, das dann eben mit Biogas und grünem Wasserstoff betrieben würde.

„Die Welt wird sich verändern. Die Dominanz der Fossilen wird schwinden, und die Erneuerbaren werden übernehmen“, sagt Henrik Sætness aus der Strategieabteilung der norwegischen Statkraft, des größten Wasserkraftproduzenten Europas. Von der Bildfläche verschwinden wird fossiles Gas deshalb aber nicht. „Bis 2050 hat Europa keine Chance, gänzlich auf Erdgas zu verzichten“, sagt Vegard Wiik Vollset, Analyst beim Analysehaus Rystad Energy. Die Hoffnung, dass es schon bald ausreichend grünes Gas und grünen Wasserstoff geben würde, werde gerade bitter enttäuscht. Auch Saetness glaubt, dass die Energieversorger die notwendigen thermischen Kraftwerke zur Stabilisierung der Stromproduktion eher mit Erdgas betreiben und die Kohlendioxidemissionen danach in der Erde vergraben werden (CCS). Hier bietet sich Norwegen ebenfalls als Partner an und treibt Projekte voran, überschüssiges CO2 aus ganz Europa im Meeresboden zu versenken.

„Man kann die Kunden mit Erneuerbaren nicht das ganze Jahr über sicher versorgen“, ist sich auch Michael Strebl der Tücken der Energiewende bewusst. Im Jänner gab es immer wieder Tage, an denen Wasser, Wind und Sonne so wenig Strom geliefert haben, dass die Wiener Gaskraftwerke 95 Prozent des lokalen Strombedarfs decken mussten. Die Frage, ob sich das dereinst auch mit grünem Gas bewerkstelligen lässt, ist nur ein Teil des Problems. Die Kraftwerke der Wiener sind auch in die Jahre gekommen und müssten Anfang der 2030er-Jahre ersetzt werden.

Hoher Preis

Der Hunderte Millionen Euro teure Neubau rechnet sich aber nicht, wenn sie nur ein paar Stunden im Jahr im Einsatz sind und selbst dann darum zittern müssen, ob sie das Geld, das sie da verdienen, auch behalten dürfen. Wenn Österreich nicht beginne, Stromerzeuger auch dafür zu entlohnen, dass sie flexible Kraftwerke zur Stabilisierung der Netze bereithalten, sei die lückenlose Versorgung der Haushalte und Unternehmen bald nicht mehr gesichert, warnt Strebl.

Doch Energie soll nicht nur sauber und sicher sein, sondern auch wieder leistbar werden, damit die Industrie auf dem Kontinent wettbewerbsfähig wird. Europa bezahlt heute fünfmal so viel für Gas wie die USA, beim Strom sieht es nicht viel besser aus. Und daran werde sich nicht allzu viel ändern, warnen die Experten von Rystad Energy. Zwar werden in den nächsten Jahren etliche neue LNG-Projekte realisiert, die das Angebot ab Ende des Jahrzehnts deutlich nach oben schrauben werden. Doch auch 2040 wird Gas in Europa immer noch mindestens doppelt so viel kosten wie in den USA. Auch der Strompreis werde nur dann wirklich auf das Niveau vor der Pandemie sinken, „wenn wir wirklich billiges Gas bekommen“, sagt Vegard Wiik Vollset.

Nicht wenige in Europa setzen ihre Hoffnungen diesbezüglich wieder vermehrt auf Russland. Industrielle im Osten Deutschlands rufen offen nach einer Rückkehr zu Moskau. Die Aussicht auf einen möglichen „Frieden“ in der Ukraine beflügelt die Fantasie zusätzlich. Der frühere Stasi-Agent Matthias Warnig soll bereits daran arbeiten, amerikanische Investoren bei der nie in Betrieb gegangenen Gaspipeline Nord Stream II an Bord zu holen. Auch Christoph Halser, Gasanalyst bei Rystad Energy, sieht eine Chance, dass schon heuer etwas mehr russisches Gas seinen Weg nach Europa finden könnte.

von Matthias Auer

Die Presse